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Heile Welt

Heile Welt

Titel: Heile Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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sie in die Butze geheftet hatte. Ihre Mutter mit blonden Locken, der Bruder als Zehnjähriger auf dem Ackergaul reitend und als Arbeitsdienstmann. Auch das Foto von Charles, dem Franzosen: Auf dessen Schoß hatte sie gesessen…
    Die Zöpfe würde sie nun wohl abschneiden müssen, das war jetzt der richtige Zeitpunkt.

    Matthias kriegte fünf Mark in die Hand gedrückt als Entgelt für das Singen, das mußte auf die Kinder verteilt werden. Fünf Mark geteilt durch sieben. Vielleicht doch dem Posaunenchor beitreten? Aber lieber nicht, das war pro Woche ein Abend, der da flötenging.

38

    J a, wußten Sie das denn nicht, lieber Herr?»sagte der Pastor zu Matthias, als sie zusammen auf den Wald zugingen, an den Schrebergärten der kleinen Leute vorüber, Gurken und Tomaten und manch gelber Kürbis.«Haben Sie es denn nicht geahnt?»
    Der schöne Sassenholzer Wald! In der Nachkriegszeit arg ausgeholzt, aber nun alles nachgewachsen längst. Pastor Ortlepp konnte ihn erreichen, ohne durchs Dorf gehen zu müssen, durch die Gartenpforte hinten hinaus. Eben mal schnell in den Wald gehen und Zwiesprache halten mit sich selbst, das tat er gern. Der würzige Duft, die Vögel und so weiter.
    Manchmal ginge er auch ein Stück durchs Dorf, sagte er zu Matthias: sich hier und da an den Zaun stellen und ein paar Worte wechseln! Die breiten Bauernhäuser und die freundlichen Bäuerinnen, immer einen Scherz auf den Lippen und kein Freund von Traurigkeit?

    Das schöne Sassenholz – in Westereistedt war ja das halbe Dorf abgebrannt, da hatte sich SS zur Wehr gesetzt – Sassenholz dagegen unversehrt, wenn man mal absah vom Abreißen älterer Gebäude, was jetzt mehr und mehr um sich greife, oder – schlimmer noch – von selbstgetätigten Anbauten aus weißen Kalkziegeln, die eigentlich verputzt werden müßten, was natürlich nie geschieht – und dann graue Eternitplatten auf dem Dach, statt des in die Landschaft passenden Reetgrases? Häßlich wie sonst was?

    «Ich dachte, Sie wüßten es längst… », sagte er und nahm den Arm seines jungen Freundes, der heute mal wieder recht jungenhaft aussah, um ihn auf einen Gartenzwerg aufmerksam zu machen, im Garten einer Flüchtlingsfamilie, die am Waldrand sich eine Baracke aufgestellt hatte, einen Gartenzwerg mit Brille, der sich über ein Buch neigte.
    «Die Leute lieben so was, warum auch nicht? Sollen sie doch, ich finde die Dinger ganz drollig.»Er frage sich, ob nicht so manche christliche Skulptur, in Kirchen oder Klöstern, eine ähnliche Funktion gehabt hätte – auf ihn wirkten sie jedenfalls gelegentlich so. In Frankreich oder Italien, die Gipsmadonnen?
    Der Pastor ließ den Arm seines jungen Freundes fahren, und sie bogen in einen Waldweg ein, der ein wenig zu schmal war, um zu zweit nebeneinander herzugehen – Matthias mußte sich vor Zweigen, die über den Weg hingen, und vor Gebüsch, das nach ihm griff, zur Seite biegen, der Pastor hingegen schritt unangefochten fürbaß, die schwarze Sommerjacke weit offen.

    Ortlepp kam auf den Tod des alten Freede zu sprechen, noch einer von der Weltkriegsgeneration, vom ersten bis zum letzten Tag im Feld.
    «Der alte Freede war ein Filou, das stimmt, ein unangenehmer Patron, oder besser vielleicht: ein Mann mit Bauernschläue», faustdick hinter den Ohren, aber, das könne man ohne weiteres sagen:«In einer rauhen Schale steckt oft ein weicher Kern…»
    Es sei die Frage, was diesem Mann denn anderes übriggeblieben wäre, als sich mit Rauheit zu wappnen. Viel älter als seine Frau, einem lebenslustigen Menschenkind, das über Stock und Stein ging, wenn ihm mal so danach war: zu Fuß nach Westereistedt zum Tanzen! Mitten im Winter!

    Ortlepp wies auf die sanft abschwellende Flur hin, die sich jetzt zwischen zwei übergroßen Buchen zeigte, lieblich zu nennen. Hochspannungsmasten schwangen ihre schweren Drähte bis an den Horizont, obenauf mit kleinen rot-weißen Bällen versehen gegen Tiefflieger.
    «Ist es nicht ein Gottesland?»

    Nicht nur Sophie Freede sei über Stock und Stein gegangen, nein, das ganze Kirchspiel absolut lebenslustig. Zu Hochzeiten drei Morgen Land verkauft, um anständig feiern zu können… Das Schützenfest, sonst ein Wochenende, nun auf drei Tage ausgedehnt, und seit neuestem zusätzlich mit der Schützenfestnachfeier versehen, ein Vierteljahr später. Er sei von einem zum anderen gelaufen und habe dagegen Front gemacht – alles vergebens.
    Nein, das sei ganz anders, als man sich das als Außenstehender

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