Heile Welt
nach ihrem Namen fragte und den Knaben begütigend die Hand auf die Schulter legte, griff Matthias unauffällig in die Schublade: Da lagen die drei fix und fertig ausgearbeiteten Visitationsstunden parat, für alle Fälle in wochenlanger Arbeit ausgefeilt und ausgefuchst und immer wieder ergänzt, gekürzt, vertieft. – Er war gerüstet, er wollte sich nicht überraschen lassen! Drei Vorführstunden, römisch I, II, III, hatte er ausgearbeitet, und er griff sich die Nummer römisch II und reichte sie dem Schulrat: eine Stunde, die wahrhaftig auf Hochglanz gewienert war, mit Zeitleiste versehen, wie viele Minuten für«Darbietung»zu verwenden seien, für«Gespräch»und«Stillarbeit»- wie viele Sekunden zwischendurch zum Innehalten dienten – methodische, didaktische und psychologische Vorüberlegungen. Stundenziel, Lernziel, Hausaufgaben usw. Und:«Standort des Lehrers»in Rot, ob leger am Fenster oder im Rücken der Kinder. An alles war gedacht.
«Das Auto», hieß die Stunde, ein Thema, bei dem ihm die Aufmerksamkeit aller Kinder sicher war. Es konnte sofort losgehen.
Drei Zigeuner fand ich einmal
Liegen an einer Weide,
Als mein Fuhrwerk mit müder Qual
Schlich durch die sandige Heide…
Passenderes Liedgut war nicht zu beschaffen gewesen:«Meine Oma fährt im Hühnerstall Motorrad»? Das doch wohl lieber nicht…
Einen kleinen Aufschub erfuhr das Geschehen dadurch, daß der Schulrat auf der jetzt sehr reinlichen Tafel vorführte, wie schön er schreiben kann, die wundervollen Großbuchstaben, und – Sütterlin! Matthias hatte Hemmungen, das dann wegzuwischen: Aber es mußte sein, er brauchte doch die Tafel! Er tat es ein wenig zögernd, aber doch auch freundlich und sorgsam, er wollte jetzt seine Autostunde halten, und damit war unverzüglich zu beginnen.
Er zeichnete mit einem einzigen Schwung den Umriß eines Autos an die Tafel, x-mal geübt und zur Perfektion gebracht, sodann ernannte er die Kinder zu Autokonstrukteuren und ließ sie die Silhouette ausfüllen mit allem, was zu einem Auto gehört, Steuerrad, Scheinwerfern, Rädern, und er wählte aus dem stürmischen Fingerwald nach dem Muster der Würfel-Fünf Schüler aus, die nach und nach das Silhouettenauto vervollständigten. Ein Auto sollte es werden, ausgestattet mit allem, was nötig ist. Bei seinem Aufrufesystem wechselte er zwischen Würfel-Fünf und Würfel-Drei, hin und wieder praktizierte er auch den Rösselsprung. Niemand hätte ihm vorwerfen können, er nähme immerfort nur die Besten dran. Nicht nur die Spitzenkinder vorführen, sondern alle normal Sterblichen gleichmäßig zu Wort kommen lassen, das war in Klein-Wense die Devise.
Der Schulrat zog die Brauen hoch… Das, was er hier zu sehen kriegte, war ja hochinteressant. Und eine so ausführliche schriftliche Vorbereitung?
Die Sache lief flott an, Handbremse, Rückspiegel, nichts wurde vergessen, und wenn das Geschäft stockte, machte Matthias eine Geste zur Tür: Bitte schön, nichts einfacher als das! Seht mal nach, was noch fehlt, draußen am Auto unseres lieben Herrn Schulrates könnt ihr nachgucken, und die Kinder rasten auf den Hof, die Hupe natürlich, die fehlte noch, und die Antenne!, wobei sie durch das Hin-und Herlaufen ganz nebenbei ihre Motorik abreagierten, wie das von Psychologen immer und immer wieder gefordert ward.
Bei der Gelegenheit huschte auch die Katze hinaus aus dem Klassenzimmer, die sich beim Anblick des Schulrats unter das Klavier verzogen hatte. Der Schulrat bemerkte das nicht, Gott sei Dank, wie er das Tier auch vorher nicht bemerkt hatte.
Sehr gelegen kam es, daß ein Lieferwagen vor der Schule hielt und daß der Fahrer sich zu dem geöffneten Klassenfenster hinüberbeugte und fragte:«Wo geht es denn hier nach Kreuzthal?»
Da war nicht sofort zu antworten: erst links, dann rechts…, sondern Kinder durften ans Fenster treten und dem Mann freundlich Auskunft geben.
Das alles war höchst wunderbar, ja: mustergültig, ein blaues Wunder sozusagen. Der Schulrat traute Augen und Ohren nicht. Er fingerte an der Vorbereitung herum: Es schien etwas dran zu sein am freischaffenden Lernen in je eigener Behaustheit.
Auch daß einzelne Kinder den Klassenraum verließen und ohne zu fragen die Toilette aufsuchten und sich hinterher die Hände abspülten im Waschbecken, war positiv. Alles so schön natürlich und ganz ohne diesen Drill, der noch immer überlebte bei so manchem alten Kommißkopp.
Die Stunde lief ab wie ein gut geöltes Räderwerk. Als keine
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