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Heile Welt

Heile Welt

Titel: Heile Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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Vielleicht war es schlimm, daß die Kugelgeschichte nun die Runde machen würde. Vielleicht fühlten sich die Bauern jetzt vor den Kopf gestoßen?
    «Der Kerl hat uns beschissen!»So in diesem Stil?
    Fünf Kugeln hatte Matthias zurückbehalten, für alle Fälle. Dann konnte er sagen: Aber wieso denn: Ihre Kugeln habe ich doch für die Schule erworben?

    Eigentlich hatte Matthias heute schon ein bißchen viel Menschen gesehen, er hätte gern seine Ruhe gehabt. Er ließ Carla irgendwie ein bißchen stehen. Aber nun, wo sie einmal da war, konnte man denn ja auch gleich zur Sache kommen.
    Matthias war’s recht.
    Und es zeigte sich, daß Carla in dieser Nacht besonders gut gestimmt war.

46

    A m Tag der Toten wachte Matthias von einem Traum auf. Er sah seine Mutter, wie auf einem alten Gemälde, nackt, unter dem Bauchnabel hing der Halbbogen ihres Unterleibs herab, gelb-verschrumpelt war sie, und sie sah ihn ernst an. Und dann schien es so, als wolle sie auf ihn zukommen. Und da«schnitt er sie von der Erde ab», wie mit einer Schere, wie ein dürres Gras. Noch lebt sie, dachte er. Eigentlich sollte ich sie besuchen.

    Er blieb noch eine Zeit im Bett, ohne sich groß zu rühren, nahm dann ein Buch zur Hand. Aber über dem Lesen kam ein Bild auf, das ihn beschäftigte: Das Foto von Gisela, im Paddelboot, das Turnhemd mit der BDM-Raute vorne, Gisela, mit der er Brause hatte trinken dürfen aus einer Flasche. Dann umgekommen durch Bomben.«Und ich lebe noch immer», dachte er.
    Er frühstückte mit der kleinen Marianne, die die Füße in ihren Pompon-Pantoffeln unter sich auf die Streben des Stuhls gestellt hatte, in den Strümpfen große Löcher. Dünne Zöpfe, von Blechhaarspangen gehalten, und einen Hahnenkamm auf dem Kopf. Wie immer unterhielt sie ihn in ihrer monotonen Art, ohne die Stimme zu heben oder zu senken. Der Vater habe sich ein Motorrad gekauft, erfuhr er, obwohl die Mama geschimpft habe, wegen dem Geld, und er bricht sich bestimmt noch mal den Hals. Sie stand auf und schenkte Matthias Kaffee nach und guckte aus dem Fenster, ob Carla von gegenüber zur Kirche geht.

    Auch Matthias sprach monoton vor sich hin, er stand noch unter dem Eindruck des Traums. Ob sie meint, daß er seine Mutter besuchen soll?, fragte er das Kind. Marianne wunderte sich, daß er überhaupt eine Mutter hat. Matthias holte die Fotos aus dem Koffer, die versehentlich gemachten Abzüge, und blätterte sie auf den Tisch. Daß er auch einen Vater gehabt hatte, darüber wunderte sie sich nicht.
    Von der dunklen Jahreszeit redete er, daß er sich besonders wohl fühlt, wenn es regnet, obwohl die Finsternis ja eigentlich unheimlich ist, eine Zeit der Toten und Gespenster? Und daß seine Mutter eine böse Frau gewesen sei.

    Ein Motorrad käme für ihn nicht in Frage, sagte er, aber warum sollte er sich nicht einen Hilfsmotor kaufen für das Fahrrad, wie Stichnoth vorgeschlagen? Und dann damit auch Gegenden nach Kegelkugeln abgrasen, die mit dem Fahrrad nicht so bequem zu erreichen sind. An ein Motorrad könne man ja keinen Anhänger anhängen, wie sollte er denn die Kugeln transportieren und die geschnitzten Stühle? Und sein Fahrrad wär’ ja noch nagelneu?

    Als Marianne gegangen war, vermißte er das Kleingeld, das er am Abend zuvor aus der Jackentasche genommen und auf den Tisch gelegt hatte.
    «Das kleine Luder…», dachte er.
    Und sie hatte vielleicht gedacht: Sie nimmt das Geld wegen des teuren Motorrades?
    Zu Mittag stand Kamerad Bentwitsch vor der Tür, ein Besuch also, der die Finsternis in einen sonnigen Novembertag verwandeln würde. Diesmal begrüßten sie sich nicht auf russische Art, sondern drückten sich schlicht die Hand. Der Kamerad, der seine Familie diesmal zu Hause gelassen hatte, fand den Salon auf einmal gar nicht mehr so ungemütlich, sondern ganz im Gegenteil. Auch freute er sich darüber, daß er Matthias angetroffen hatte, obwohl es doch Totensonntag war, da besuchen normale Menschen doch den Friedhof? Er hatte sich in Wuppertal kurz entschlossen auf den Weg gemacht, ohne vorher noch groß einen Brief zu schicken. Das war ein Risiko gewesen, das hätte auch schiefgehen können.

    In der Kaffeekanne fand sich noch eine Neige, und ziemlich sofort zopften sie sich in die Vergangenheiten hinein, und sie taten das an einem Tag und in einer Umgebung, die dem nachdenklichen Versenken in alte Zeiten günstig war.
    Das bunte Licht, das in die Kirche fällt…
    fing der Gast an zu deklamieren, das sollte die Formel sein,

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