Heile Welt
weitergeht.
Matthias betrachtete die Kallroysche Vision des himmlischen Jerusalems und dachte an Ellinors Bildermappe: Hätt’ ich doch…, wär’ ich doch…, dachte er und verkrampfte die Hände ineinander und seufzte laut, so daß die Leute zur Rechten und Linken schon dachten, er bete.
Und dann eben ereignete es sich. Von der Orgel herab sang eine junge Frau mit klarer, feiner Stimme Lieder von der Art, wie sie hier wohl noch niemals gesungen worden waren. Jedenfalls nicht so: Komm, Jesu, komm, mein Leib ist müde…
Und Lehrer Klein begleitete sie zart, ganz ohne Pedalgepolter, und er hatte dazu jenen Choralsatz bearbeitet, den Bach sich vor langer Zeit ausgedacht hatte, fein im Gedackt spielte er das, und die junge Frau sang klar darüber hin.
… die Kraft verschwindet je mehr und mehr…
Wer weiß, wer kann es sagen, woran die Leute dachten bei dieser wunderbaren Musik. Vielleicht an die Gefallenen, ihre Söhne, die Männer? Oder an die Großväter, die in der Butze verröchelt waren. Oma, wie sie letzt noch in der Küche saß und Kartoffeln schälte… Jedenfalls hörten sie alle zu, denn keiner putzte sich die Nase.
Es war die Lehrerin aus Hamersiek, Elfriede Wehrschild, die da oben sang, als Bauerntrudje verschrien, mit strähnigem Haar, die er mal besucht hatte und nichts angeboten gekriegt außer Keksen mit eingetrocknetem Marmeladenfleck oben drauf: bittende und abwehrende Hände, und in der Handfläche die Lebenslinie, arg zerfurcht.
«Sieht so meine Seele aus? So wie die?»dachte Matthias.«Anima mea?»Der rechte Weg, die Wahrheit und das Leben? Wem konnte das gefallen, so eine Seele zu haben, aber ein Bettlakengespenst konnte er auch nicht akzeptieren als Seele, oder ein Ding wie der Zahnnerv, den ihm der Arzt gezogen hatte, hingehalten, ein blutiger weißer Faden, und weggeworfen?
Es preßte Matthias zusammen, und ohne daß er es steuern konnte, empörte sich sein Inneres, und es zuckte in ihm, und Tränen schossen ihm in die Augen; wie konnte er es um Gottes willen anstellen, daß das hier niemand bemerkte? Und es sang immer noch da oben, und Matthias wäre am liebsten hinausgelaufen.
Alles habe ich verspielt, dachte er, und: Es ist alles aus.
«Sind Sie krank?»fragte ihn eine Frau beim Hinausgehen.
Ja, wahrscheinlich, dachte Matthias, wahrscheinlich ist das eine Art Krankheit.
Und als er zurückfuhr nach Klein-Wense, weinte es leise aus ihm heraus, und er genoß es fast, daß sich das löste, und er unterdrückte nichts.
Der Himmel hatte sich tief herabgesenkt, er lagerte sich auf die abgeernteten Felder und auf die großen Dächer der Bauernhäuser. An der Hexenbrücke machte Matthias halt, hier setzte er sich auf die Bank und beruhigte sich erst mal. Die blattlosen Bäume standen im Nebel wie ausgeschnitten aus schwarzem Papier. Und in den Sträuchern hingen einzelne Nebeltropfen. Matthias schüttelte sie ab und fuhr nach Hause.
47
E s kam der finstere Dezember, und es regnete den ganzen Tag. Morgens traf sich Matthias mit den Kindern am Ofen: Was gibt es Neues? Und dann wurden Adventskerzen angezündet, auf den Tischen, und dann setzte sich Matthias zwischen die Kinder und las Märchen vor.
Weihnachtslieder wurden gesungen:«Es kommt ein Schiff geladen…»und«Tochter Zion, freue dich!»Und dann las Matthias Märchen vor, von den Kindern umdrängt, und wenn er das Buch zuklappte, war die schwarze Morgenstunde schon ein bißchen weniger schwarz.
«Wir alle drei! – Ums Geld! – Und das war recht…»
Als die drei Gesellen unter dem Galgen stehen, kommt eine Kutsche gefahren, mit acht schwarzen Pferden bespannt, ein weißes Tuch wird geschwungen: Gnade! Gnade! – Trifft die Kutsche nur eine Minute zu spät ein, dann ist alles vorbei.
Die Tage gingen mit Basteln und Singen hin, ab und zu wandte man sich dem leider Nötigen zu, auf daß der Plan erfüllet werde. Schreiben, Lesen, Rechnen, watt mutt, mutt.«Wenn an einem Weihnachtsbaum vierundzwanzig Lichter brennen, wie viele brennen dann an fünf? Wieviel an sieben? Wieviel, wenn an jedem Baum drei Lichter fehlen?»- Es wurden auch«zusammengesetzte Hauptwörter»geübt, also«Schweinebraten»,«Gänsebraten,«Schokoladenpudding»und anderes Nahrhafte auf sprachliche Bestandteile hin untersucht. Aber Basteln und Singen herrschte vor.
Advent, Advent,
ein Lichtlein brennt,
erst eins, dann zwei, dann drei, dann vier,
dann steht das Christkind vor der Tür.
Die Erntekrone unter der Decke wurde gegen einen
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