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Heile Welt

Heile Welt

Titel: Heile Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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Hirten gestoppt, mit Laterne, Stock und Vaters Sonntagshut:«… Man möchte ma-inen, es würd’ ein Himmelslicht erscha-inen…», hatte er zu sagen, und die Schneeflocken hatten baß erstaunt zu sein und unter seiner Führung zum Krippengeschehen hin zu wirbeln, das in einer Ecke der Bühne aufgebaut war mit Marianne als Hauptperson, auf einer Strohschütte sitzend, und Hinni als Joseph mit dem Hut seines Vaters und einer Stallaterne.
    Marianne waren die Zöpfe aufgelöst worden, und auf dem freifallenden Haar trug sie einen goldenen Kranz. Neben ihr stand als Sonderengel die dünne Ursula und rührte sich nicht. Ihre Mutter im Publikum winkte mit dem Taschentuch: Ob sie sie auch sieht?

    Als Bindeglied zwischen den einzelnen Szenen mußte das Märchen vom dicken fetten Pfannkuchen herhalten, das hatte Matthias sich ausgedacht, das war seine ureigenste Idee. Ein Junge, der einen Papp-Pfannkuchen wie ein Nummerngirl vor sich hertrug und dabei«kantapper, kantapper, kantapper!»sagen mußte, womit er einen Spitznamen für den Rest seines Lebens weghatte.

    Alle Kinder, die nicht hatten beschäftigt werden können, traten am Schluß als eine Art Völkerschau an die Krippe: Ritter, Matrosen, Eskimos, sogenannte Neger und sogar drei waschechte Australier mit Schild und Speer, die radschlagen konnten und auf Händen gehen. Der dicke fette Pfannkuchen in ihrer Mitte,«kantapper, kantapper, kantapper…», ging durch sie hin.«Klick-klack! »machte das Blitzlicht des Fotografen.
    Und als dann am Schluß ein als Spätheimkehrer verkleideter Schüler sein Knie an der Krippe beugte, war kein Halten mehr, da brachen Eltern, Großeltern und Tanten in Tränen aus – also war die Aufführung erfolgreich. Der Lehrer hatte den Erwartungen der Gemeinde entsprochen, und alles war in Butter.
    Das hätte auch Frau Schmauch nicht besser hingekriegt!, wurde gesagt, und der Bürgermeister schickte ein gebratenes Kaninchen ins Lehrerhaus, das Matthias dann allerdings im Garten vergrub. Kaninchenbraten – das kannte er nicht, Kaninchen hatte es zu Hause nicht gegeben.

48

    E s wurde sehr einsam am Heiligen Abend. Zur Christvesper nach Sassenholz mochte Matthias nicht fahren, weil dort Kollege Klein am Altar ein Krippenspiel aufführte, ebenfalls mit Spätheimkehrer, aber ohne Pfannkuchen. Und außerdem hatte er ein bißchen viel«Stille Nacht»gesungen die letzte Zeit.
    In Klein-Wense war es dunkel, in den Fenstern schimmerten die Weihnachtsbäume. Matthias setzte sich auf sein Fahrrad und fuhr durchs Dorf und die Eische entlang. Er starrte hinüber zum Kallroy-Haus. Vielleicht hatte Ellinor ihre Gedankenkraft zusammengenommen und gezielt darauf angesetzt, ihn herzuzwingen an diesem Abend? Möglicherweise war diese Fahrt jetzt darauf zurückzuführen, daß sie an ihn dachte. Sie öffnet die Tür und sagt: Wie schön, daß Sie kommen…
    Zu den Seglerkameraden fahren? Dort eintreten und schlicht sagen: Kinder, ich bin so allein, kann ich nicht’n Augenblick hier bei euch sitzen?
    Oder zu Sowtschick, dem Schriftsteller, und ihm alles erzählen? Die drei Lebensstarts, und der macht dann ein Buch daraus? – Vielleicht wartete der auf so was?
    Er dachte auch daran, Elfriede Wehrschild in Hamersiek zu besuchen. In der Not frißt der Teufel Fliegen. Ihr sagen, wie wundervoll ihre Stimme sei… Aber die fuhr über Weihnachten gewiß nach Norderdeich zu ihren Eltern und Geschwistern. Auch gut, sonst hätte die gewiß wunders was gedacht.

    Im Häuschen des Barons wäre er freundlich aufgenommen worden. Der alte Herr saß über den Büchern des Landhändlers, sorgenvoll: Wie er es hinkriegt, daß der Landhändler möglichst wenig Steuern zu zahlen hat, damit er seine junge Frau bei Laune hält, das war sein Problem. Der schwarze Papagei auf der Stange und ein Glas Bärenfang: Von Ostpreußen hätte der Baron erzählt, von seiner Heimat, und wie schön es dort gewesen war. Mit Schnee und Eis! Ganz anders wie hier in diesem düsteren Regenland.
    Als er nach Hause kam, fand Matthias auf dem Küchentisch einen größeren Briefumschlag vor, ohne Absender und ohne Adresse. Jemand hatte ihm eine Kallroy-Zeichnung geschickt: eine frühe Bleistiftzeichnung, die Eische mit badenden Kindern in jeder Position, ein größeres Mädchen darunter, in dem man unschwer Ellinor erkennen konnte. Im Hintergrund, deutlich sichtbar, marschierten SA-Männer, die Hand am Koppelschloß.
    War das ein Weihnachtsgeschenk von Ellinor? Oder hatte ihm der Mappendieb ein

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