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Heile Welt

Heile Welt

Titel: Heile Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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Adventskranz ausgetauscht.

    Die Großen bastelten eine Krippe, und die Kleinen fertigten Transparente an, aus schwarzem Karton, die mit rotem Seidenpapier hinterlegt wurden. Matthias setzte sich mal hierhin und mal dorthin, neben den nun schon zum zweitenmal«backen»gebliebenen Willem, der die Bastelpappe mit Uhu einstrich, als müsse er mit dem Klebstoff malen, oder neben die dünne Ursula, und dann dämmerte er vor sich hin. Bloß nicht aufregen, bloß den Geist der Stunde nicht verstören!

    Manchmal verschwand Matthias in die Küche, setzte sich an den Tisch, die Beine hochgelegt, und drehte die Daumen. Wenn der Lärm drüben anschwoll, nahm er ein Holzscheit und warf es gegen die Tür. Das war es nun wohl, was unter«freischaffendem Lernen»zu verstehen war, in«je offener Behaustheit». – Von Marianne, dem Katzenkind, hielt er sich fern, sie hatte sein Vertrauen mißbraucht. Geld vom Küchentisch zu nehmen?«Schließlich wäre ich doch der letzte gewesen, der ihr nicht freiwillig was gegeben hätte…»Ein solcher Vertrauensbruch konnte nicht ungeschehen gemacht werden. Oder doch? Sollte man nicht beide Augen zudrücken? Erst mal noch nicht, später vielleicht. Als Lehrer hatte man ja auch moralische Maßstäbe zu setzen.

    Anfang Dezember erhielt er aus Bremen einen amtlichen Brief, es täte ihm leid, schrieb ein unbekannter Kollege, der auch seine Last hatte mit dem pädagogischen Geschäft, Matthias bekäme in den nächsten Tagen Zuwachs, drei Jungen müsse er ihm überweisen, drei schwierige Fälle, schwierigste Fälle, durch Laubeneinbrüche bereits aufgefallen und so weiter, unverbesserliche Gesellen, die ihm seine Tage gehörig vergällt hätten…
    Und tatsächlich, eines Morgens traten die drei an, keine Tornister trugen sie, wie sonst jeder normale Mensch, sondern exotische Büchermappen aus Segeltuch, was amtlich gar nicht statthaft war… – schwarzhaarige Gesellen mit blauen Augen. Ein eigenartiges Deutsch sprachen sie, aber Englisch konnten sie fließend, denn sie kamen aus dem fernen Australien!

    Die ersten Tage gingen so hin, da waren die drei noch eine Sensation, denn sie erzählten von der langen Überfahrt, von einem Walfisch, der sich in der Schiffsschraube verheddert hatte und seine Blutspur im Heckwasser hinterließ… Australien wurde auf dem Globus gezeigt, und es wurde erwähnt, daß es dort Känguruhs gibt.
    Von Bremen erzählten sie nichts, und Matthias verhielt sich still in Erwartung unangenehmer Ereignisse. Aber es geschah weiter nichts, die Jungen waren zwar Linkshänder, katholisch und hatten zusammengewachsene Augenbrauen, aber sie waren einigermaßen freundlich. Der Kleinste verstand es, auf Händen zu gehen, und der Große konnte Kartenkunststücke. Das Messer, das er bei sich trug, empfahl man ihm besser zu Hause zu lassen. Katholiken hatte es seit Flüchtlingszeiten an dieser Schule nicht mehr gegeben. Ein Element der Unruhe oder der Extrawurst, wie man es besser bezeichnen konnte. Zur Unzeit packten sie plötzlich ihre Sachen und gingen zur Christenlehre. Wenn man eben dachte: Jetzt hast du sie alle beisammen, schoben sie ab. So was war ungewohnt.

    Die Dorfjugend wehrte sich gegen die Neulinge, linkshändig und außerdem katholisch? Es kam zu Prügeleien, wobei die Australier zusammenhielten und außerdem nach der Devise vorgingen: Wir hauen immer so kräftig zu, wie wir nur irgend können. Aber dann wurde ihnen aufgelauert, größere Dorfjungen verstärkten die Schülerrotte mit Knüppeln, und das war auch für Matthias unangenehm, weil der australische Vater im Lehrerhaus erschien, ein großer starker Mann, und sich dicht vor Matthias aufbaute und ihn anbrüllte irgendwie, er werde ihm die Knochen im Leib zerbrechen, wenn das nicht unterbleibt, und so weiter.
    Das Friedensschiff der Schule in Klein-Wense geriet ins Schaukeln, keine Stunde, in der Matthias nicht sein pädagogisches Besteck herausholen mußte und handeln und«behandeln», gut zureden also und trennen. Einerseits Zwillen abnehmen und andererseits fremdländische Bleistifte bestaunen, gemeinsame Händewaschungen veranstalten, und dann eben auch die Hand auf den Kopf legen, was Matthias eines Tages tat, ganz instinktiv, und das löste bei dem Ältesten der drei Australier unerwartet einen Tränenstrom aus. Die Leidenszeit in Bremen war somit vergessen. Hand auf den Kopf legen, so etwas hatte Matthias beim alten Petersen nicht gelernt. So etwas muß man selbst herausfinden.

    Dann drohte die

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