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Heile Welt

Heile Welt

Titel: Heile Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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Tag geschneit hätte auf dem Nachhauseweg, große Flocken, wie das so ist in der Weihnachtszeit, wenn sich die Flocken dann noch auf ihr krauses Haar gesetzt hätten, ja, vielleicht hätte er sie dann in den Arm genommen, dann hätte die Sache noch gerettet werden können. Dann brauchte er jetzt nicht allein auf einem Dorf zu sitzen? – Nein: Jura und Pädagogik, das ging nicht zusammen.

    Anita Fitschen, die jetzt bei Fräulein von Kallroy arbeitete, hatte ihm einen Kuchenteller hingestellt, und der Bauer hatte eine Flasche Korn spendiert. An diese Flasche hielt er sich, nahm einen Schluck nach dem anderen. Und dann klopfte der australische Vater an die Tür und sprach ganz milde, das wär’ hier ja ganz anders als in Bremen, daß seine drei Buben auch hatten mitmachen dürfen bei der Weihnachtsfeier, das hätte er nicht gedacht, in Bremen immer nur die Jacke vollgekriegt und sogar die Polizei geholt!
    Er saß im Salon auf dem Umbausofa, seine Profilsohlenstiefel hatten deutliche Spuren auf dem Teppich hinterlassen. Der Mann war gleich nach dem Krieg nach drüben gegangen, bloß weg von Europa, hatte er gedacht, dort aber dann Pech gehabt, also wieder zurück nach Deutschland, und ausgerechnet nach Bremen! Und nun Klein-Wense, und er erzählte die Geschichte von dem Walfisch, der ihnen auf der Überfahrt in die Quere gekommen und dessen blutiges Gedärm im Heckwasser aufgeschäumt war. Und dabei nahm er einen Schluck nach dem anderen, und immer: Prost! Und Matthias nahm auch einen Schluck nach dem anderen. Er ging auf und ab in seiner Wohnung, die Hände auf dem Rücken. Um auch mal zu Wort zu kommen, erklärte er dem Mann seine Wohnungseinrichtung, die Schattenrisse zum Beispiel, da drüben an der Wand, daß die enorm wertvoll sind, was er glaubt, was die kosten? Und die Porzellansammlung im Glasschrank, der Knabe mit der übergroßen Weintraube, die Tasse mit dem Bild des Herkules in Kassel-Wilhelmshöhe, und eine Libelle, auf der ein nackter Knabe reitet, und er nannte die sagenhaft billigen Preise, zu denen er diese Sachen erstanden hatte, und schätzte den Wert, den sie jetzt hätten, wenn er sie verkaufen würde, was er natürlich nicht tut, weil die Sachen in ein paar Jahren unbezahlbar sind.

    Er dächte, daß sich mit der Zeit noch mehr anfindet an solchen Petit riens; wenn man immer wach ist und aufpaßt, stößt man auf solche Stücke, eh’ man sich’s versieht.

    Eine richtige Lampe fehlte noch in seinem Salon, es hing immer noch die Glühbirne von der Decke. Der Australier sagte Prost!, und er hätte eine ausgemusterte Ankerlampe zu Hause stehen, aus Bremen mitgebracht vom Hafen dort, die wollte er ihm gern schenken, mal sehen, wo er die hat.

    Es wurde fröhlich und immer fröhlicher, und schließlich kamen die beiden ins Singen, Weihnachtslieder sangen sie nicht, sondern Lieder aus ihrer Jugend:«Die blauen Dragoner, sie reiten…», ob Matthias das Lied kennt, fragte der Mann, und dann, als sie sentimentaler wurden, sangen sie:«Die Schwalbe fliegt daher, sie fliegt wohl übers Meer, der Mensch lebt nur einmal und dann nicht mehr! »Zu diesem Lied wußte der Australier sogar eine Oberstimme.
    Schließlich kamen seine Söhne und holten ihn ab. Sie nannten ihn«Papa»und faßten ihn unter. Ob sie etwa glaubten, er könne nicht alleine gehen?, fragte der Mann seine Söhne. Doch, doch, das glaubten sie, aber zu Hause wartete die Mutter mit der Wurstsuppe. Trinken konnte er ja auch zu Hause.

    Als Matthias zu Bett gehen wollte, die Außentreppe hinaufstieg, Stufe für Stufe, die Flasche mit dem Rest Schnaps in der Linken und die Kallroy-Zeichnung in der Rechten, passierte es ihm, daß er ausrutschte und auf der regennassen Treppe liegenblieb, und da lag er dann die halbe Nacht.

    Am nächsten Morgen wachte er in seinem Bett auf, es hatte ihn jemand hinaufgeschleppt. Es war ihm so, als hätte er nicht allein gelegen in der Nacht. Die Zeichnung lag glattgestrichen auf dem Tisch, sie war vom Regen ziemlich mitgenommen.

49

    I m Januar fuhr Matthias zu einem Fortbildungskursus nach Lesseps im Weserbergland, die Posaune unter dem Arm. Er mußte sich sofort auf den Weg machen, der Schulrat rief an, und er solle nur ruhig fahren, Lernen habe noch niemandem geschadet, sich pädagogisch mal wieder auftanken, eine Art Generalüberholung, den eigenen Standort ausloten, vielleicht bewegt man sich ja bereits auf ausgefahrenen Gleisen? Zuviel zu tun sei schädlich – zu wenig: tödlich! Nie darf man auf seinen

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