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Heile Welt

Heile Welt

Titel: Heile Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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Trostpflaster zukommen lassen?
    Es war zu sehen, daß dieses Blatt tatsächlich aus der Mappe stammte, und daß man es ihm hier hinlegte, hatte was zu bedeuten.

    Matthias erschrak: Vielleicht sollte er erpreßt werden? Wie der Schnapslehrer in Ossendorf, der sich mit kleinen Mädchen eingelassen hatte?
    Sollte sein letzter Lebensstart so schmählich enden?

    Er war drauf und dran, das Blatt zu nehmen und zu Ellinor zu fahren und ihr alles zu beichten: Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen. Es auf den Tisch legen und sagen: Tut mir leid, aber ich kann es auch nicht ändern. Aber er tat das nicht, er dachte: Vielleicht klärt sich der Sachverhalt ja doch noch irgendwie auf. Und schließlich: Sie hatte ja was beiseite schaffen wollen, gegen Recht und Gesetz, und da wird sie sich hüten, etwas zu sagen.
    Da verrät sie sich ja selbst.
    Das Recht, so schien es, war auf seiner Seite.

    Dann schon lieber zur Tante gehen und sagen: Hören Sie mal, wissen Sie eigentlich, daß Ihre Nichte dauernd was beiseite schafft? Ahnen Sie das überhaupt? Und die Tante erweist sich dann als ganz umgänglich und lädt ihn zum Kaffee ein und zeigt ihm die privatesten Hinterlassenschaften ihres Bruders, dessen Pfeife, eine Brille und womöglich Briefe aus dem KZ, mit allerlei dunklen Andeutungen versehen?
    Und Ellinor, die nicht dazu gebeten wird, lauscht unten am Kamin, was es da oben zu besprechen gibt?
    Matthias stand in seiner Bodenkammer am Fenster und sah in den dunklen Himmel hinein. In dem Wald da drüben, in dem er mit den Kindern hatte Hütten bauen wollen, war er noch nie gewesen, und er hatte auch noch keinerlei Heu gestakt. Und die Tür der Schultoilette stand immer noch offen.
    Er kramte ein wenig in seinem Andenkenkoffer. Dabei stieß er auf das Notizbuch, das er sich in Kreuzthal gekauft hatte, im April, als er seine Stelle antreten wollte und noch alles vor sich hatte. Es waren nur die ersten Seiten beschrieben, alle anderen Blätter waren leer.
    Schade, dachte er, es ist doch so viel geschehen in diesem Jahr. Das werde ich nun alles vergessen. Es kam ihm so vor, als säße er schon zehn Jahre in Klein-Wense.«In Amt und Würden.»Der dritte Start, so schien es, war gelungen? Oder?
    Im Koffer fand sich das Portemonnaie des Vaters, sogar noch mit ein paar Groschen drin. Da lag auch der letzte Brief seiner Mutter -«Junge, warum schreibst du nie?»-, nun schon drei Monate alt. Aber sie wußte es doch, weshalb er nicht schrieb… – Im Garten hatte sie gestanden mit dem Nachbarn zusammen, er hatte es gesehen, und das konnte er nicht vergessen.
    Und als der Vater für immer fortging, durch den Garten, war sie gerade beim Friseur gewesen.
    Die zwölf Fotos der Mutter… Er nahm eins und riß es in Fetzen, und die Fetzen zerriß er noch einmal, bis nur noch ein Stückchen vom Büttenrand erkennbar war.
    Und dann schaltete er den Plattenspieler ein, den er sich selbst zu Weihnachten geschenkt hatte, aber er besaß noch keine Platte, das Ding lief leer.

    Am Nachmittag kam Marianne, ohne Katze, aber einen kleinen Bruder an der Hand, das gab ihr mehr Sicherheit, und sie saß eine Weile bei ihm und erzählte, wie gut sie das hingekriegt hat, als Maria im Stroh zu sitzen… Sie saß bei ihm in der Küche. Aber es war nicht so ganz das richtige, früher war es vertrauter gewesen, früher hatte er immer gedacht: hoffentlich bleibt sie noch ein bißchen, jetzt wäre er lieber allein geblieben.
    Immerhin, sie redeten wieder miteinander. Man kann nicht immer zur Seite gucken, wenn man den ganzen Tag miteinander zu tun hat.
    «Ist sie denn gewachsen?»dachte er.

    An«Heilig Abend»dachte er nicht. Daß alle Welt sich schätzen ließe… Von Weihnachten waren die letzten Wochen voll gewesen. All das Transparente-Bauen, jeden Tag immer wieder die alten Lieder,«Süßer die Glocken nie klingen…». Er wäre gern zu Ellinor gegangen, aber das ging ja nun nicht mehr, und Carla ließ sich nicht sehen, weil der Eleve zu Besuch gekommen war.
    Matthias heizte im Salon den prachtvollen, mythologisch verzierten Ofen an und im Anbau den kleinen braunen, setzte sich in den Altländer Stuhl und betrachtete seine Schätze: die blauen Teller, das Zinnschälchen… Er nahm das Foto von Lilli zur Hand. Es war erst ein Jahr her, daß er mit ihr zusammen im Weihnachtsoratorium gewesen war, keinen Platz gekriegt und die ganze Zeit gestanden, und hinterher dann auf der Straße, die große Heulszene. Alles war falsch gewesen. – Wenn es an dem

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