Heile Welt
Kursleiter von einem Kalenderblatt ablas: daß Annette von Droste-«Hülsdorf»an diesem Tag geboren sei und Benz den Vorderachsenantrieb seines Autos erfunden.«Zerknalltreibling», so hatte man den«Motor»im Dritten Reich nennen wollen.
Einmal wurde ein Lied angestimmt, das Kontroversen auslöste:
Gute Nacht, Kameraden,
bewahrt euch diesen Tag.
Die Sterne rücken aus den Tannen,
empor ins blaue Zelt
und funkeln auf die Welt,
die Finsternis zu bannen…
«Nein!»rief ein älterer Herr, von dem gesagt wurde, er sei anthroposophisch angehaucht,« das nicht! Nicht das !»- Man dachte schon, er sei aufs tiefste getroffen durch schlimme Erinnerungen an die Nazizeit, aber nein, nein! Bei diesem Lied hatte er Jugenderinnerungen angenehmerer Art. – Am Abend sah man ihn dann im Erker sitzen, die feinnervigen Hände ins schüttere Haar vergraben, da mochte er an ein zartes Mädchen denken, mit Schnekkenflechten über den Ohren. Da war es dann der Kursleiter, der den Fächer seines Skatblattes niederlegte, zu ihm hinüberkrachte und ihn tröstete.
Jeden Tag kreuzten Spezialisten in Lesseps auf, die irgend etwas Wissenswertes aus ihrem Fachgebiet von sich geben sollten. Ein Pädagoge kam per Motorrad – mit umgeschnallter Aktentasche -, der sprach tatsächlich von freischaffendem Lernen in je offener Behaustheit.
Stimmbildung wurde betrieben, hierfür war ein stellungsloser Schauspieler engagiert. Wer Probleme gekriegt hatte durch das ständige Anschreien von Schülern, Knötchen also an den Stimmbändern, konnte sich nachmittags von vier bis fünf Uhr bei ihm melden.
Ein Erdkundemensch kam in Bergstiefeln einhergeschritten. Zum Frühstück hatte er sich eine Zervelatwurst mitgebracht von zu Hause. Damit besserte er die amtliche Ration auf.
Erdkunde sei keine Vermutungskunde, sagte er, eine Landkarte angucken und Vermutungen anstellen, wie’s wohl in Tasmanien aussieht, das wär’ abzulehnen.
Besonders hatten es ihm Wetterkarten angetan, über deren Isothermen und Isobaren er in Verzückung geriet; die kleinen Fähnchen, die neben den Zahlen standen mit Plus-und Minuszeichen, wundervoll! Briefumschläge teilte er aus, die waren mit ausgeschnittenen Wetterkarten gefüllt. Um was für einen Monat es sich bei diesen Wetterkarten wohl handle, diese Vermutungen sollten die Lehrer anstellen, und ob sie angesichts der ausgeteilten Wetterkarten wohl einen Urlaub riskierten?
Einer der jungen Spunte kam aus Einbeck, der hatte sich«im Leben noch nicht versucht», wie gesagt wurde. Nachkriegsmensch und weißer Jahrgang und überhaupt ganz indiskutabel, der stellte die Frage, wie das denn zu verstehen sei, am Tag zuvor habe er doch gesagt, Erdkunde sei keine Vermutungskunde? Wettervorhersagen stimmten doch sowieso nie…
Der wurde dann ziemlich kurz abgefertigt,«nie??»wurde er gefragt. Der half dann aber anschließend dem Dozenten die Wandkarten aufhängen, und damit war alles wieder gut. Ob sich der Kursleiter einen Vermerk gemacht hatte für den wahrscheinlich doch wohl vorgesehenen Bericht an die Schulbehörde, das war die Frage.
Auch von Himmelskunde hatte der Mann Ahnung, mitten in der Nacht trafen sich Auserwählte mit ihm auf dem Hof, und dann zeigte er in die Höhe auf so manchen Stern. Der Hausmeister kam und sagte, das geht aber nicht, daß sie hier mitten in der Nacht solchen Lärm veranstalten!
«Wir sind gleich fertig, einen Augenblick noch…»Er schließt gleich ab, sagte der Hausmeister, dann muß hier Ruhe herrschen, den Schlüssel gibt er nicht aus der Hand. – Einer mußte die Tür wegen des Schnappschlosses offenhalten, der durfte sich keinen Zentimeter vom Fleck rühren, sonst wäre sie ins Schloß gefallen, und die ganze Gesellschaft hätte sich durchs Toilettenfenster quälen müssen.
Zur musikalischen Schulung kam eine Art Künstler, der hatte Hugo Distler noch persönlich gekannt. Er wurde von dem schweratmenden Kursusleiter zu jedem Kursus eingeladen, und der meinte ebenfalls, daß er feig gewesen sei in der Nazizeit, beim Abendessen verkündete er das, und er neigte sich dem neben ihm sitzenden Kursleiter zu, jaja, feig, feig, feig!«O Gott, waren wir feig!»Abends sah man ihn bei den Skatspielern, aber da kriegte er dauernd was auf den Deckel, obwohl er Distler noch persönlich gekannt hatte, weil er den anderen nämlich das Spiel versaute: Sich die Trümpfe merken und was alles schon raus ist und wieviel man gedrückt hat, das ist auch nicht jedermanns Sache.
«Feig! feig! feig!
Weitere Kostenlose Bücher