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Heile Welt

Heile Welt

Titel: Heile Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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Anstand wär’?
    Und, als er den Stirb-und-werde-Stuhl am Fenster entdeckte, den Matthias im letzten Moment vom Holzplatz gerettet hatte, mit den rotleuchtenden Lebensfrüchten auf der Rückenlehne:«Ist das nicht der Stuhl aus der Klasse? Wollen Sie den hier bei sich stehenlassen? »
    Und, da er gerade bei diesem Themata wär’ – das Scheffelmaß im Stall, ob es der Wahrheit entspreche, daß er das weggegeben hat, bei Nacht und Nebel? Fitschen von nebenan habe ihm das berichtet, das wär’ doch das alte Gemeindemaß… Nicht, daß das noch gebraucht werde, aber einfach wegzugeben das Dings?
    Als Matthias ihn fragte, ob das denn nun unbedingt nötig gewesen wär’, die Platanen einfach alle abzuhauen, beide Reihen, fragte der Bürgermeister, ob Matthias eigentlich wüßte, wieviel Dreck solche Bäume machten?, jeden Herbst das ganze Laub? Der Museumsleiter habe gesagt: Platanen – die passen doch gar nicht in unsere Gegend…
    Irgendwie beleidigt ging der Bürgermeister davon.
    Lernet die Weisheit!
    Und Matthias schmiß sich aufs Bett, mit klopfenden Schläfenadern.

    Die Folge dieses Besuchs war, daß Matthias die Unterrichtsarbeit erst mal so gut wie völlig ruhen ließ. Er fuhr mit dem Molly nach Hamburg und nach Bremen, richtige Tagesunternehmungen waren das, und er wußte gar nicht, was er da sollte. Nichts hören und sehen: Das war die Devise.
    In Hamburg ging er die Mönckebergstraße einmal hinauf und hinunter, Schulkinderkolonnen mit vorn und hinten Lehrern zur Bedeckung, die anscheinend nicht auf die Idee kamen, den Paternoster im Chilehaus auszuprobieren. Da mal hingehen und denen das sagen: Die Rolltreppen bei Karstadt, das wäre doch was für die Kinder…
    In Bremen kaufte er sich ein neues Freizeithemd und setzte sich zu einem Antiquitätenhändler in den Laden. Der stammte aus Chemnitz und war in einer Hermann-Lietz-Schule groß geworden. Daß sie da Heu aufgestakt hätten und mit dem Lehrer im Fluß gebadet, erzählte der Mann in seinem entzückenden Sächsisch. Und daß Matthias die Faxen dicke habe vom Landlehrerdasein unter solchen Umständen, verstand er. Jedes Jahr von vorn anfangen, schreiben, rechnen, lesen, das wär’ ja ein Faß ohne Boden, und natürlich keinerlei Dank dafür ernten. Wenn er noch daran denke, wie sie ihrem Lehrer nach der Schulentlassung eine Bäbe geschickt hätten, mit Mostrich drin… – Matthias saß gern bei ihm im Laden: Wiener Bronzen, winzig klein und aasig teuer, und er ließ die Taschenuhren, die der da feilbot, wie übergroße Münzen rund und schwer von einer Hand in die andere gleiten, und wenn ein Kunde kam und nach einem«Ascher»fragte oder wieviel der Bilderrahmen kostet, der im Schaufenster steht, dann verständigten sich die beiden hinterher, ob der blöd gewesen sei oder nicht. Ein Dämel durch und durch?
    Im Bahnhof setzte sich Matthias ins Fotomaton und ließ sich knipsen, von vorn, von links und von rechts, mit Grimasse und ohne, aber er hatte niemanden, dem er ein Bild hätte schenken können.

    Carla kriegte er jetzt wegen des Eleven nur noch selten zu sehen. Sie sah sehr verändert aus: Matthias erschrak, als er sie wiedersah. Die schönen Zöpfe abgeschnitten – schnipp-schnapp… Der Hals sonderbar lang und dünn, und das Haar im ausrasierten Nacken bereits nachgewachsen. Der Kopf sah aus wie ein Periskop, nach links und rechts in die Gegend zu drehen.
    Auch hatte sich Hausfrauliches eingeschlichen in ihre Züge. Früher öfter mal Quatsch gemacht, sich seinen Strohhut geschnappt und aufgesetzt, und jetzt war sie der Meinung, daß der Bürgermeister zwar ein schlimmer Kerl sei, aber Matthias brauche ja auch nicht gleich alles so furchtbar verlottern zu lassen. Der Garten zum Beispiel, es werde Zeit, daß er ihn schwarz macht, der Frühling kommt eher, als man sich’s verdenkt. Warum Anita denn nicht mehr komme? Habe er die vergrault?

    Hinni war es, der ihn wieder zur Vernunft brachte, der redete beruhigend auf ihn ein und stellte die Bänke wieder so hin, wie sie seit hundert Jahren gestanden hatten. Die Mädchen brachten neue Pflanzen mit für die Fensterbänke, und ein Wagenrad wurde unter die Decke gehängt, das mochte als Schmuck hingehen, bis man daran gehen konnte, eine Frühlingskrone zusammenzustecken. Nach einer Woche stellte sich auch Mariannes Katze wieder ein, die mit dem Rohrstock hinausgejagt worden war, sie strich um seine Beine herum und sprang aufs Klavier und blieb dort sitzen. Steine waren hinter ihr hergeworfen

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