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Heile Welt

Heile Welt

Titel: Heile Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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Kaminsaal, obwohl dort bereits wieder die Blockflötenspielerin über den allgemeinen Schwof hinweg Triller in höchste Höhen steigen ließ.

    Stanislaus Fiesel war dageblieben, obwohl seine Mission bereits erfüllt war. Hätte er nach Hause fahren sollen und dort allein in der Stube sitzen? Vielleicht ergebe sich hier ja doch noch eine unvorhergesehene Gelegenheit, wer konnte denn wissen? In Rinteln hatte sich auch erst ganz am Schluß was ergeben, eine absolut leidenschaftliche Knuddelei, anschließend gar nicht wieder losgeworden das heiße Mädchen…- Die Dame mit der Blockflöte hatte ihm Kinderzeichnungen vorgelegt, die irgendwie einzigartig waren. Aber einen Slowfox mit ihr tanzen wollte er denn nun doch nicht. Nur zu gut erinnerte er sich an eine Dame gleicher Statur, die aus ihrem Dutt, als es dann ernst wurde, ein altes Brötchen herausgeholt hatte.
    Er blieb also länger als vorgesehen. Unerträglich war ihm der Gedanke: Man reist ab und erfährt es dann viele Jahre später: Ja, wissen Sie denn nicht, daß es nach Ihrer Abreise erst richtig losging, die kleine Dingsda, die wachte da erst richtig auf!

    Als es dann spät wurde und immer später, kriegte Stanislaus Fiesel einen sogenannten Moralischen. Nicht daß ihm das Feig! Feig! Feig! zu schaffen machte, das immer wieder aus der angeheiterten Skatrunde über die Tanzfläche drang, nein, das ganze Leben irgendwie verfahren. Soll er nun nach Braunschweig gehen, zu seiner ehemaligen Frau zurück, oder lieber in den Westerwald ausweichen und dort nur noch Bilder malen? Alle Welt kann ihn am Arsch lecken? Malschülerinnen aus den umliegenden Kleinstädten um sich scharen und denen dann anschließend Privatstunden geben etcetera pp?

    Matthias, von Weinbrand und Bier beschwert, saß neben ihm am Kamin, dessen Feuer immer noch angefacht wurde, obwohl bereits alles die Jacken abgelegt hatte und die Kragen gelöst. Fiesel war mit seinen Gedanken woanders, aber als er hörte, daß Matthias Lehrer in Klein-Wense sei, riß er die Augenbrauen hoch. Klein-Wense? Dort lebte doch sein Lehrer, Kallroy, diese tragische Sache…, durch die eigene Tochter ins Unglück zu geraten? Ein einziges Wort entschlüpft, und schon war’s passiert? Rot vom Scheitel bis zur Sohle, mit Arbeiterkindern auf der Wiese getanzt und im Krieg irgendwelche Illegalen beherbergt, und dann von der eigenen Tochter reingerissen!
    «Hieß sie nicht Ellinor? – Hat sie nicht Selbstmord gemacht nach dem Krieg?»
    Am nächsten Morgen trat alles auf den Hof, es hatte frisch geschneit, und der Hausmeister fegte mit einem Reisigbesen den Weg frei, links-rechts, links-rechts… Abschied! Schön war es gewesen, nun aber schnell wieder nach Hause, irgendwie sehnte man sich nach der Schule, nicht wahr? Kaum zu glauben, aber es war so. Der Kasperlspieler hatte seine Puppe über die Hand gestreift und gab jedem seine Kasperhand – der Daumen war deutlich zu fühlen. Und auch die anderen gaben einander die Hand. Vielleicht würde man sich ja mal wiedersehen?

50

    A ls Matthias nach Hause kam, sah er gerade eben noch den Kollegen Stichnoth wegbrausen in seinem kleinen Borgward, da war kein Handschlag vorgesehen, von Kollege zu Kollege, so sehr Matthias auch in die Pedale trat und rief und winkte, dem Manne danken für seine Arbeit.

    Am nächsten Morgen mußte er mit ansehen, wie sämtliche Platanen gefällt wurden. Erst die größeren Äste ab, dann die Bäume selbst. Er wachte davon auf, daß die Motorsägen sich in das Holz fraßen, er dachte anfangs, es handle sich um Nachbar Fitschen, daß der seine Eichen von überflüssigem Geäst befreien wollte, aber dann sah er das Malheur, und er stellte sich mit den Kindern an die Straße, und ein Baum nach dem anderen kippte. Warum nicht auf einer Seite stehenlassen, fragte er die Leute über den Lärm der Motorsägen hinweg, das ginge doch ohne weiteres? Es wäre Luft geschaffen, und das Gesicht des Dorfes bleibe erhalten? Da war keine Antwort zu erwarten, und der Bürgermeister war grade woanders.
    «Kinder, wir gehen rein!»sagte Matthias.
    «Wird ja auch allmählich Zeit!»sagten die Arbeiter.

    In der Schule hatte sich manches verändert. Nur vierzehn Tage hatte Kollege Stichnoth hier residiert, aber das hatte Spuren hinterlassen, die nicht so ohne weiteres zu tilgen waren. Die Bänke waren umgestellt, die Pflanzen auf den Fensterbrettern verschwunden, ja, die Adventskrone hatte man von der Decke gerissen.«Raus mit dem ganzen Muff!»
    Die freudige

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