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Heile Welt

Heile Welt

Titel: Heile Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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schien in die Klasse – ihn durchrieselten Wonnegefühle.
    Eine praktische Angelegenheit, so ein Pult. Man wird gesehen und kann alles sehen. Mal einen aufrufen:«Komm nach vorn!», der kommt dann auch tatsächlich, und dann sagen:«Du kannst dich wieder setzen.»
    «Gehst du mal rüber in die Küche und holst mir meine Zeitung?»Das sagen, und es geschieht. Also auch irgendwie Herr der Kinder sein bis hin zum In-den-Mantel-Helfen.
    An diesem Pult, oder besser dahinter, würde er sich häuslich einrichten und dann die Schüler von oben liebevoll ansehen und sie wachsen lassen in ihrer«je eigenen Neigung und ihrem je eigenen Vermögen», wie Petersen empfohlen hatte. Unter der Hand richten sich die Zöglinge auf, und sie streben empor zum Licht. Und wenn einer ausbricht, dessen Seele vielleicht verkrüppelt ist: den dann isolieren. Dieses verwilderte Pflänzchen hinbiegen zu gradem Wuchs. Das war ja im Grund alles furchtbar einfach.

    Und in diesem Pult würde man das Sesam-open-you deponieren. Und wenn die Rede auf den Nordpol kommt, dann unauffällig die Karteikarte herausfingern und rasch überfliegen, was da steht. Daß Seehunde im Nördlichen Eismeer rechtsrum von der Scholle springen und in der Antarktis linksrum, das wäre als«Bildendes»herauszustellen. Darüber würden sich die Kinder wundern, wie ja übrigens die Erwachsenen auch. Und das Wundern würde dann einen Lernprozeß vorbereiten, den es zügig zu nutzen galt.

    Matthias zog die Schublade auf. Hier lagen Wochenbericht und Stoffverteilungsplan, die Versäumnisliste und das Zeugnisbuch, ganz wie Herr Schmauch es mitgeteilt hatte.
    «Auf die Versäumnisliste würde ich vor Gericht keinen Eid ablegen, Herr Kollege!»
    Alles recht säuberlich geführt. Daß die einklassige Schule Wense 26 Kinder zu betreuen habe, war aus den Papieren zu entnehmen, 7 in der Unterstufe, 12 in der Mittelstufe und 7 in der Oberstufe.
    - Das hörte sich gut an. Das würde in den Griff zu kriegen sein. An die Säuberlichkeit des Vorgängers würde man anschließen müssen, da weitermachen, auch wenn die eigene Schrift nicht gerade eine Pädagogenhandschrift ist.

    Matthias legte die Beine hoch und studierte den Stoffverteilungsplan, der aus dem Jahr 1950 stammte. Teile davon schienen sogar aus der Nazizeit übernommen worden zu sein, denn ein Kapitel hieß:«Hei! Unsere Soldaten kommen!»Das Thema für die erste Woche nach Ostern lautete:
    Komm, lieber Mai, und mache…
    Und darunter stand:«Feld und Wald tragen ein Festtagskleid»/«Maikäfer, flieg!»/«Einführung der Zahlen 1 bis 3».
    Für die Mittelstufe wurde vorgeschlagen:«Unser Schaf wird geschoren»/«Spinnrad und Webstuhl»/«Eingekleidete Aufgaben». Ansonsten sollte des Zweiten Weltkrieges gedacht werden:«Unsere Gefangenen: Wir warten auf euch! Ein Gang zum Kriegerdenkmal. »
    Diesen Stoffverteilungsplan würde man übernehmen können. Da erst mal weitermachen und dann allmählich darüber hinauswachsen, und dann einen ganz neuartigen Plan entwerfen, in dem das freischaffende Lernen in offener Behaustheit den Ton angab.

    Maikäfer… Gott, ja. Nachher mal nachsehen, ob im Sesam-open-you auch eine Ausarbeitungskarte über den Maikäfer steckte…, diese Tiere hatten Chitinflügel, wenn man sich nicht irrte; und daß sie im Vierjahreszyklus auftauchten, wußte man auch so, dazu brauchte man die Kartei nicht, das gab die Allgemeinbildung noch her, und daß die«Müller»an irgend etwas zu erkennen waren, auch das wußte man noch aus der Kindheit.

    Matthias nahm sich das Zeugnisbuch vor – es begann im Jahr 1884 – und schlug unter dem Namen«Freede»nach, ob da vielleicht eine Carla Freede aufgeführt ist. Ja, er fand den Namen, 17. Mai 1942 geboren – goldene Früchte der Liebe… interessant, also neunzehn Jahre alt. Im Deutschen nicht so berühmt, aber im Rechnen lauter Einsen.
    Neben Carla Freede war auch ein Jochen Freede verzeichnet, der Sohn des Bauern Johann Freede, 1941 gefallen.
    Von Kallroy, das stand weiter vorn, Ellinor, Vater Kunstmaler, geb. 8. 10. 1925. Das war ebenfalls sehr interessant, Schrift mangelhaft. Vielleicht fanden sich auf dem Dachboden ja noch Hefte von ihnen? Aufsätze? Aber vermutlich hatte er mit denen gerade Feuer gemacht.

    Unter der Zimmerdecke baumelte ein verwelkter Osterkranz an einem rostigen Haken mit bemalten Eiern dran. Einen Haken unter der Decke anbringen – was für eine hübsche Idee! Den Kranz würde man jetzt allerdings schleunigst entfernen müssen und durch

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