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Heile Welt

Heile Welt

Titel: Heile Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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alter Handschuh, eine Ballruine. An einem ausgerissenen Karton mit Reagenzgläsern stand:
    Behutsam trag es,
zerbricht es – sag es.
    Im Schrank lag auch eine Tüte mit Tintenpulver und eine Mappe mit Hunderten von Entschuldigungszetteln.«Hol doch mal den Papierkorb…»Alles in den Papierkorb tun, aber die Entschuldigungszettel lieber nicht, das hatte vielleicht etwas mit dem Schulrecht zu tun.
    «Aber Herr Kollege, so was können Sie doch nicht so einfach wegwerfen! Das sind doch Dokumente.»Entschuldigungszettel wegwerfen, das hätte vielleicht juristische Konsequenzen bis hin zur sofortigen Entfernung aus dem Dienst.
    Christa hatte gestern Bauchweh, außerdem mußte ich auf Arbeit.
    Nicht«Judenschule»sagen und keine Entschuldigungszettel wegwerfen. Bei der Versäumnisliste nicht pingelig sein. Alles andere würde man ausbalancieren können.

    Den Papierkorb entleerte er in die ausbetonierte Müllgrube: das Mädchen hielt die eiserne Klappe in die Höhe. Hierbei wurde Matthias gefragt, ob er denn keine Frau hat? Und keine Möbel? – Nein, keine Frau und keine Möbel.
    Irgendwie erzählte er ihr, daß er hier in Klein-Wense ganz von vorne anfangen wolle mit seinem Leben, es sei alles ziemlich verkorkst gewesen, was er bisher so unternommen hat.
    «Verstehst du?»
    Ja, das verstand das Kind. Und er hätte ihm noch viel mehr erzählt, zum Beispiel von Lilli, daß man sich eine solche Frau auf dem Land nicht vorstellen kann, und daß er im Grunde froh sei, sie vom Hals zu haben, daß«Vom-Halse-Haben»aber nicht der richtige Ausdruck wär’, wenn in diesem Augenblick nicht die Katze gekommen wäre. Dann hätte er ihr auch erzählt, daß Lilli auf der Universität Jura studiert, ganz regulär, und er nur beim alten Petersen das bißchen Pädagogik… Jura und Pädagogik, so was kann ja nicht funktionieren… An sich ganz nett gewesen, die Zeit mit Lilli… Alles haarklein, und sie hätte gewiß alles verstanden. Aber nun mußte die Katze auf den Arm genommen werden, und das war ein schönes Bild, die Morgensonne, das Mädchen mit Schürze um und Katze auf dem Arm.
    Nun bin ich nicht mehr so allein, dachte Matthias, obwohl er sich noch gar nicht einsam fühlte.

    Als sie gegangen war, hätte Matthias sich gern in der Küche Spiegeleier gebraten und mit Brot aus der Pfanne aufgetupft. Aber da hätte er ja erst Feuer machen müssen.
    Ob sie die Eier irgendwo geklaut hat? dachte er. Um Gottes willen, das fängt ja gut an. Und daß er die Eier gar nicht bezahlt hatte! Und dann dachte er: Auch ich bin ein ziemlicher Larifari-Mann.

    Ein schwerer eichener Sammelrahmen mit Fotos der Gefallenen aus beiden Kriegen hing neben der Tür, UNSERE HELDEN stand oben drüber, von Eichenblättern umkränzt.

7

    N un zum Kaufmann fahren. Matthias plusterte mit seinem Mantel Flügel schlagend ins Dorf, Pferde und Kälber galoppierten auf der Dorfweide neben ihm her, und Kinder riefen:«De Liehrer kümmt!»von Hof zu Hof.
    Es gab drei Kaufleute im Dorf: Claasen, Klapproth und eine Kriegerwitwe mit Bus.
    Heiner Claasen gehörte nicht so recht zum Dorf, weil sein Großvater sich aus Schleswig-Holstein hier angekauft hatte, vor achtzig Jahren, und weil er ein anderes Platt sprach. Von Kaufleuten hieß es überdies: Die leben ja von uns! Was für Lehrer in gewisser Hinsicht ja auch galt.
    Claasen lebte mehr als recht und schlecht von seinem Laden, er konnte Haare schneiden, was vereinheitlichend wirkte in diesem Dorf, und er betrieb die Landwirtschaft, die sein Großvater vor achtzig Jahren erworben hatte. Kurz vor Ausbruch des Krieges hatte sein Vater dem jüdischen Viehhändler das letzte Vieh abgekauft, bevor der nach Schweden ging: Übergroße Rinder, deren Nachkommenschaft sich noch jetzt von allen Kühen des Dorfes unterschied. Claasen sang im Männerchor im zweiten Baß, und in der Nachkriegszeit war er wegen Schnapsbrennerei ein paar Wochen«verreist»gewesen. Da er dichtgehalten hatte und im Verfahren vor dem Amtsgericht in Kreuzthal niemanden mit reingerissen, gereichte ihm das zur Ehre.

    Auch Frau Claasen trug zum Lebensunterhalt bei, sie gab dienstags und freitags Handarbeitsunterricht, und wenn einer starb im Dorf, war sie es, die ihn für die letzte Reise herrichtete.«Watt mutt, mutt!»pflegte sie zu sagen.

    An diesem Tag war Kaufmann Claasens Laden zugesperrt. Was Matthias nicht wissen konnte: Claasen hatte immer zu; in den Schaufenstern waren schon seit Jahren die Rollos heruntergezogen. Außer Fliegen, die auf dem

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