Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Heile Welt

Heile Welt

Titel: Heile Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
Vom Netzwerk:
hätten die Engländer dort Parteigenossen eingesperrt, die wären dann nach einem Vierteljahr auf allen vieren wieder angekrochen gekommen… Der Bauer Up de Hœcht zum Beispiel, immer so betont Heil Hitler! gesagt, bei jeder Gelegenheit – jetzt alt und klapprig, fällt immer hin -, der Sohn bei der SS ein ziemlich hohes Tier – aber läßt sich nirgends sehen… und der alte Fitschen von gegenüber, Ortsbauernführer, immer aufgepaßt, wer die Fahne nicht raussteckt, und 45 nicht geholfen, die Wagen aus dem brennenden Stall zu ziehen.

    Über Carla hinweg, durchs Fenster, konnte Matthias auf das Schulhaus sehen, oben sein Zimmer, in dem jetzt wahrscheinlich der Sperling herumflog, auf Brotkrumensuche; der Tisch mit dem Brief von E. v. K. an Lillis Foto gelehnt, das Bett in der Ecke, in dem er gern jemand zum Kuscheln gehabt hätte, knöchern oder vollschlank, ganz egal, die Bücher auf dem Fußboden. Er sah Carla neben sich liegen, wie aus Holz geschnitzt. Zwei hölzerne Puppen, von irgend jemandem hineingelegt und bis ans Kinn zugedeckt.

    Eigentlich war dies die Stunde, in der er sich auf die Schule hätte vorbereiten müssen, und nun saß er hier und quatschte! Aber sich vorbereiten, das konnte man ja immer noch tun: Den Buchstaben O abschließen und auf das U zusteuern – uh, Ulli, ein Uhu, auf der Uhr – und bei den Großen mit dem Zweiten Weltkrieg weitermachen, das war schließlich nichts Weltbewegendes.

    Er redete des langen und breiten von seinen Angelegenheiten. Und sein Leben gab allerhand her. Davor, danach und dazwischen. Und jetzt mit aller Kraft einen Neuanfang starten.
    Sie ordnete die Teller der Größe nach, ganz so, wie sie seine Geschichtchen einordnen mochte in«interessant»oder«weniger von Belang»- und ab und zu kratzte sie sich am Rücken. Fremdartig waren ihre Bewegungen und doch vertraut. Ihre Zöpfe waren so schwarz wie Indianerzöpfe.
    «Carla»- ein ungewohnter Name. So hatten früher Dienstmädchen geheißen, Carla oder Klara, zu denen sich die Primaner in die Kammer schlichen, um«erste Erfahrungen»zu sammeln.
    Um Blond hatte es Millionen von Toten gegeben. Blond war eine ideologische Haarfarbe.
    … ich hab’ eine Schwäche für blonde Frau’n grad’ so wie du eine bist…
    War schwarzes Haar schon mal das Idol eines Zeitalters gewesen? Von schwarzhaarigen Mädchen handelte kein einziger Schlager. Matthias hatte sich schon immer eine schwarzhaarige Freundin gewünscht, aber es war sein Schicksal, letzten Endes stets an Blonde zu geraten.
    Davon sprach Matthias jetzt nicht, aber er warnte die Bauerstochter davor, die Zinnteller, die auf dem Bord standen, wegzugeben, an irgendwelche Holländer zum Beispiel, die hier das Land abgrasten und für fünfzig Pfennig solche Teller einramschten und dann in Holland für hundert Mark wieder verkauften.
    Daß er«hundert Mark»gesagt hatte, verbaute ihm die Möglichkeit, sie irgendwann einmal für zwanzig zu erwerben. Wie oft hatte ihm das leichthin Gesagte schon alles verdorben.

    Nach den Dingern habe Pastor Ortlepp sich schon oft erkundigt. Jedesmal, wenn er sie treffe, sage er:«Was machen die Teller?»Sie nahm einen herunter, wischte ihn mit der Schürze sauber und reichte ihn Matthias. Er war wohlgeformt, und am Rand war eingraviert: Pf. 1823. Damit war nichts anzufangen.
    Vielleicht bedeutete«Pf.»«Pfingsten»? War der Teller vielleicht zu Pfingsten 1823 verschenkt worden?
    Ein Relikt aus dem Jahr 1823, also genau hundertsiebenunddreißig Jahre her…
    «Oh, Sie können aber gut rechnen…», wurde gesagt, und es war klar, daß die Kunde von seinem Rechenmalheur auch in dieses Haus gedrungen war. In hundert Jahren – vielleicht im Jahre 2060 – würde es heißen:«Damals hatten wir in Klein-Wense einen Lehrer, der nicht rechnen konnte.»

    Ein weiteres Rätsel gab eine bunt angemalte Blechdose auf, die auch auf dem Bord stand.
    «Die ist ja hübsch», sagte Matthias und nahm sie in die Hand, und er hätte gern gewußt, was es mit diesem Gegenstand für eine Bewandtnis habe.
    Carla wurde ein bißchen verlegen, ja unwirsch, sie rakte die Eisenringe auf dem Herd zur Seite und legte neues Holz auf, hell beleuchtet von den herausschlagenden Flammen. Dann stellte sie die Dose wieder an ihren Platz. Ein bißchen Damenbart hatte sie, und unter den Achseln schwarze Vliese.
    Sie hätte gern gewußt, wozu er die Kegelkugeln braucht, die er dauernd heranschafft, aber das ging jetzt, wo sie das Geheimnis der Blechschachtel für sich

Weitere Kostenlose Bücher