Heile Welt
der Wiese hinterm Haus, die bis an den Fluß heranreichte, begann ein Mann mit einer Sense das Gras zu mähen, der erste Schnitt im Jahr. Ein schöner Anblick, und bedeutsam. Schnitt für Schnitt legte der kräftige Mann das Gras um und schaffte neue Verhältnisse. Die beiden Herrschaften im Erker wichen ein wenig zurück, daß er sie nicht sieht, wie sie hier im Erker sitzen und Tee trinken, während er da draußen arbeitet. Der alte Kallroy hätte ihn gewiß gemalt, wie er da Schnitt um Schnitt hinlegt, und alles Gras vergeht wie Heu. Und der Mann schien sich dessen bewußt zu sein, daß das malerisch aussieht, mit Hut auf und Stummelpfeife, und er wußte natürlich auch, daß er beobachtet wird. – Nun dengelte er die Sense, rechts-links, rechts-links elegant aus dem Handgelenk heraus: was sein muß, muß sein.
Natürlich sprach Matthias nicht von seinen verschiedenen Lebensstarts, weder beiläufig noch ausführlich, obwohl er daran dachte in dieser außergewöhnlichen Stunde. Er fand es wunderlich, daß er hier jetzt in einem Künstlerhaus sitzt, unter einer tickenden Uhr, dem Haus eines Malers, der in jedem Kunstlexikon steht, und Tee trinkt, nach all dem, was er erlebt hatte und wo er doch im Schulhaus man grade ein Bett besaß und einen Haufen Kegelkugeln. Er widerstand der Verlockung, seine Leidensode zu singen, obwohl das zur Unterhaltung, die ins Schleppen geriet, getaugt hätte. Auf diese Geschichten würde man später zu sprechen kommen, an einem stillen Abend, vielleicht vor jenem Kamin da drüben? Wenn die Flammen sich fortsetzten in den an die Wand gemalten Jünglingen und Jungfrauen und sie belebten, wie sie da nackicht ihre Arme gen Himmel recken, dann würden sie beide sich ihre Geschichten erzählen, wechselseitig, einander ergänzend, wie eine Lebensfuge, her und hin.
Vom Baum des Lebens fällt mir Blatt um Blatt…
Hermann Hesse war zu zitieren, Ellinor tat es – im Krieg hatte er aus der Schweiz selbstgemalte Postkarten versandt und Gedichte hintendrauf geschrieben – ihr Vater habe auch mal so eine Postkarte bekommen, wahnsinnig gelacht über das künstlerische Erzeugnis, aber dann lange korrespondiert mit dem Dichter, den er noch aus den zwanziger Jahren kannte.
Ellinor griff hinter sich und holte die Karte, die sie schon bereitgelegt hatte, hervor und zeigte sie ihm, so wie man einen Ausweis vorlegt. Es handelte sich um die aquarellierte Federzeichnung eines alten Baums mit abgeknicktem Ast. Dem Dramaturgen aus Bremen war sie gewiß auch vorgewiesen worden.
Sie schickte sich an, andere Gedichte von Hesse aufzusagen, was Matthias ziemlich sofort stoppte. Nein, keine Gedichte aufsagen, er verzichtete ja auch darauf, mit Rilke-Kenntnissen zu glänzen. Er hatte keine Lust, sich auf einen Literaturskat einzulassen. Da hatte er sowieso die schlechteren Karten.
Mu, mu, mu so brüllt im Stall die Kuh…
Dieses Lerngedicht hatte er bei der Einführung des Us leider vergessen, das fiel ihm ein, und das warf er sich vor in dieser Stunde. Lange war es her, daß er selbst mal was geschrieben hatte. Damals in der dunkelsten Zeit, da war ihm das eine oder andere sogar gelungen.
Da war es schon besser, man sprach ganz allgemein von«drüben», die Ostsee! Ahrenshoop. Ellinor von Kallroy war während ihrer RAD-Zeit zeitweilig in Lüssow am Borgwallsee gewesen und war von dort aus öfter mal nach Stralsund rübergerutscht und auch an die Küste gefahren zum Baden. Es wär’ ja lustig gewesen, wenn man einander dort begegnet wäre, sie als Arbeitsmaid, er als schlaksiger Pennäler? Die Welt ist ein Dorf!
Reichsarbeitsdienst: eine ziemlich elende Zeit, Kuhstall ausmisten und Flaggenappell und Flöhe! Und dick sei sie gewesen, richtig aus dem Leim gegangen von den vielen Suppen!
Ihr Vater habe sie dort mal besucht, mit der Lagermannschaftsführerin geflirtet. Er habe dann dort auch ein wenig gezeichnet, obwohl Malverbot, die Skizzen müßten noch irgendwo liegen. Sie sähe ihn noch sitzen, auf einer Parkbank, in Lüssow am Borgwallsee, die Baracke hinter sich. Von hinten habe sie sich ihm genähert und ihm die Augen zugehalten.
Kurz danach sei er dann ja verhaftet worden… wegen der Leutchen, die sich für ein paar Tage in seinem Haus verkrochen hatten… fehlte nicht viel, und sie würden ihm hier jetzt ein Denkmal errichten. Obwohl – sie wundere sich -, die Leutchen selbst, die hier Unterschlupf gefunden hatten, hätten sich eigentlich auch mal melden können. So wie der Franzose es tat,
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