Heile Welt
heruntergestürzt wäre vom Tisch, dann hätte er es aufgefangen. Auch der AG-Leiter, Herr van Dechterong, kratzte sich am Kopf: Von dem, was da jetzt ablief, war in den langen Vorabbesprechungen, die hin und her geführt worden waren, ob man dies oder das machen kann oder lieber läßt, nicht die Rede gewesen. Froh konnten die drei Herren sein, daß man sie in die Gratulationscour nicht einbezogen hatte. Von Rechts wegen hätte man dem Kinde ja eigentlich auch gratulieren müssen, nun hatte man sich abseits gestellt, pädagogisch kaum zu verantworten… Menschenherzen sind empfindsam.
Ein Wunschlied wurde gesungen, ein Gedicht aufgesagt, Musik gemacht mit Blockflöten, Tamburin und metallenen Xylophonen; sodann traten sämtliche Mitschüler vor und drückten dem Geburtstagskind die Hand, einer nach dem andern, der Klassensprecher führte es an seinen Platz zurück, der mit einer Blumengirlande geschmückt war, die Zeremonie war beendet.
Es kehrte Ruhe ein, wenn man von dem Lärm, den ein Bagger unter dem Fenster machte, absah. Der Arbeiter hatte ausgerechnet heute den Auftrag, die Baugruben der beiden nicht mehr entstehenden Schultrakte zuzuschieben: Lange hatte man gezögert, das zu tun, jetzt wurde es höchste Zeit, sonst würde die Grassaat nicht mehr aufzubringen sein.
Frohriep stellte sich an die Tafel und ließ seinen Blick freudig über die Schülerschar schweifen, bis hin zu den gewichtigen drei Herrn, die sich mit ihren großen Hinterteilen auf den unbequemen Kinderstühlen herumdrückten. Seine Kameraden nickten ihm aufmunternd zu: Wird schon schiefgehen! Was glaubst du, was uns schon alles passiert ist!
Dann summte er einen feinen Ton in die Gegend.«Nun will der Lenz uns grüßen – von Mittag weht es lau… », wurde gesungen, ins Weltliche überleitend, von dem die Stunde handeln sollte. Die Kinder sangen einigermaßen zart, wenn man von der letzten Zeile des Liedes absieht, die sie ein wenig zu stark betonten:
Hei-ja! Nun hat uns Kinden ein End’ all Wintersleid!
Dies notierte sich der Schulrat, strich es jedoch wieder durch, so kleinlich wollte er nun auch nicht sein, statt dessen dachte er an seine Wandervogelzeit, in der er den Wimpel getragen hatte.
Aber:«Kinden», war diese Wortprägung ausreichend erarbeitet worden? Konnte man das im Raume stehenlassen? Zwölf Minuten rum…
Nun öffnete Frohriep die Tafel und gab den Blick auf ein mit Veilchen und anderen Blumen koloriertes Gedicht frei.«Er ist’s»- dieses Mörike-Gedicht sollte in der Stunde behandelt werden.
Frühling läßt sein blaues Band Wieder flattern durch die Lüfte…
Das Öffnen der Tafel wirkte wie eine schöne Überraschung auf die Kinder, zumal Frohriep es mimisch etwas hinausgezögert hatte: Ob er die Tafel jetzt öffnen soll oder nicht? Ja? Soll er sie öffnen? Ja, nun man los!, dachte der Schulrat, der kannte den Trick: Die Spannung«anstauen», so stand’s in der pädagogischen Handreichung, die er den jungen Lehrern wieder und wieder anempfahl.
Die mit Farbkreide gemalten Blumen machten sich gut. Frohriep hatte seine junge Frau dazu angestellt, die von ihrem Apotheker dafür beurlaubt worden war.
Leider hatte er vergessen, den für die Raumpflegerinnen bestimmten Satz schräg oben drüber wegzulöschen:
Bitte stehenlassen!
Statt dessen fehlte die Überschrift des Gedichts. Das wurde nun korrigiert, und nun konnte es richtig losgehen.
Frohriep legte den Kopf schief und forderte die Schüler mit einer einladenden Bewegung auf, das in tadelloser Normschrift geschriebene Gedicht zunächst einmal still zu lesen. Ja, er tat dabei mit, er stellte sich ein wenig seitlich und las es ebenfalls durch, obwohl er es doch in-und auswendig kannte. Stumm und in sich gekehrt ließ er eine gewisse Zeit verstreichen, die ausreichen mochte, daß alle Schüler den Text einigermaßen kapierten, einschließlich des nicht unproblematischen Wortes«ahnungsvoll». Es herrschte absolute Stille im Raum, und sogar der Bagger draußen hielt den Atem an. Vielleicht nahm der Arbeiter gerade einen Schluck aus der Pulle.
… Veilchen träumen schon,
Wollen balde kommen.
- Horch, von fern ein leiser Harfenton…
Auch die Gäste nahmen das Gedicht auf. Mancher mochte an seine Schulzeit denken: Lyrik – das war problematisch gewesen. Endlose quälende Interpretationsverrenkungen, allen noch deutlich in Erinnerung.
Der Schulrat überlegte, ob sich Uhland nicht besser geeignet hätte für eine solche Stunde?«Frühlingsglaube»:
Weitere Kostenlose Bücher