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Heile Welt

Heile Welt

Titel: Heile Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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verstehen, meinte der Kollege. Er selbst mochte da auch so seine Probleme haben.

    Matthias hätte nun eigentlich gehen müssen. Der Kaffee war ausgetrunken, aber das Gespräch floß dahin, mit Prall und Gleithang, wie die schwarze Eische, die zu ihren Füßen in den verschiedenen Grünstreifen ihre Schleifen zog. Das hatte Matthias lange nicht erlebt, mit älteren Menschen zusammenzusitzen und mit ihnen ganz einig zu sein. Er spürte, daß er das, was ihn von seiner Kindheit trennte, noch immer nicht verwunden hatte.

    Frau Rennenfranz schnitt ihm einen Blumenstrauß. Das war das Zeichen zum Aufbruch. Der alte Kollege führte ihm indessen seine Bilder vor, die großen und die kleinen Formate, aber das ging gnädig ab, denn als die Lehrersfrau mit dem Strauß hereinkam, sorgte sie dafür, daß die Besichtigung abgeschlossen wurde.«Opa, das kannst du ihm alles ein andermal zeigen!»
    Sie drückte Matthias den Blumenstrauß in die Hand und ein Glas selbst eingemachtes Johannisbeergelee, zu gleichen Teilen Zucker und Frucht.
    Als er sich schon auf das Rad geschwungen hatte, drückte ihm der alte Rennenfranz noch ein Blumenbildchen von sich in die Hand.«Weiße Taubnessel, auch Bienensaug»stand daneben und«Lamium album.»

    Nach Hause fahren?
    Matthias radelte ein bißchen durch die Gegend, Blumenstrauß unterm Arm und Marmelade in der Hand, Bild in der Rocktasche. Um nach Hause zu fahren, war es noch zu früh. Irgendwann kam er an einem Kaffeegarten vorüber, ohne Kegelbahn, wie er sofort bemerkte.
    Die Tische waren direkt am Ufer der Eische aufgebaut. Matthias setzte sich und bestellte ein Alsterwasser, auf das er dann eine Dreiviertelstunde warten mußte, weil der Kaffeegarten mit Ausflüglern aus Bremen gefüllt war, die alle Natur genießen wollten, Frühling! Wenn die Natur erwacht, und alles Leben beginnt von neuem. Das gibt es in der Stadt ja gar nicht mehr.
    Matthias wartete, aber er langweilte sich nicht. Gedanken und Bilder kamen und gingen, das war wie der Fluß der Eische, wie das Wasser dahinfloß. An einem Fluß hat man keine Langeweile, dachte er.

    Als der Gastwirt endlich das Alsterwasser brachte, sah Matthias am Eingang Carla stehen. Sie stand dort schon eine ganze Weile, und sie sah ziemlich deutlich in seine Richtung.
    Aus einem verwickelten Gefühl heraus winkte er sie nicht heran. Am Zaun stehen, in der Laube sitzen – gut, mit ihr in der Küche Tass’ Kaff’ trinken – auch gut. Aber hier im Kaffeegarten vor aller Leuts Augen zusammen am Tisch sitzen, das ging irgendwie nicht, das bedeutete etwas. So etwas hatte Konsequenzen…
    So nahm er denn sein Notizbuch vor und kritzelte darin herum.
    Später sah er, daß er klug gehandelt hatte, denn aus der Herrentoilette kam ein stämmiger junger Mann heraus, die Hand am Hosenschlitz, auf den hatte Carla offensichtlich gewartet.

    Gegen Abend fragte er den Wirt, ob er ihm nicht ein Boot borgt, er ist der Schulmeister von Klein-Wense… Es wär’ doch hübsch, wenn er nicht nach Hause radelt, sondern rudert…
    Das sei ein ziemliches Ende, sagte der Gastwirt, aber machen ließe sich das. Für zwei Mark wurde ihm das Boot«Verena»losgemacht. Matthias legte sein Fahrrad hinein, nahm die Stange auf und stakte munter die Eische hinauf, leider durchaus entgegen der Fließrichtung.
    Nach kurzer Zeit merkte er, daß das Staken schwerer war, als er gedacht hatte, Wassertropfen rannen die Stange herunter, so daß seine Hände naß wurden, und er kam nur langsam voran; die Eische hatte eine zügige Strömung. Nicht angenehm war es auch, daß er wegen der hohen Uferböschung fast gar nichts zu sehen kriegte, obwohl er in dem Kahn stand. Ein paar Kühe folgten ihm neugierig, und Enten suchten das Weite. Manchmal teilte sich der Flußlauf, dann wußte er nicht, soll ich nun links oder rechtsrum fahren? Gegen den Strom, das war die Devise.
    Er bereute es bald, sich diesen Umstand gemacht zu haben, anstatt mit dem Fahrrad über die Asphaltstraßen dahinzusegeln. Es wurde dunkler, und er begann zu schimpfen, und ein bißchen Angst hatte er auch.

    Gleichmäßig stakte er dahin und dachte: Das müßte ein schönes Bild sein, der dunkle Schatten eines regelmäßig dahinstakenden Mannes in einem schwarzen Kahn vor grauem Abendhimmel?
    Irgendwo hatte er so ein Bild schon mal gesehen. Oder war es ein Mann mit Sense gewesen? Hier stehenbleiben, wie der Ritter zwischen den Felsen.

    Schließlich schaffte er es, er näherte sich Klein-Wense. Das Kallroy-Haus war

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