Heile Welt
deren fettfleckiges Pergamentpapier schon einmal benutzt worden war. Das war nach dem Vespern glattgestrichen und wieder zusammengefaltet worden.
Das Lehrerhaus in Haufe stand neben der Schule, es war ein richtiges kleines Bauernhaus, mit Strohdach und grüner Dielentür. In alter Zeit hatten die Dorfkinder in diesem Haus noch Schreiben, Rechnen und Lesen gelernt. Eines Tages war eine neue Schule gebaut worden, Anno 1896, die Wände voll Salpeter und der Keller konstant unter Wasser, und in nicht allzu ferner Zeit würde man sie schließen und eine moderne daneben errichten, dort, wo jetzt noch Kiefern standen, mit Gruppenräumen und fließend Wasser in jeder Klasse, Lehrerzimmer, Lehrmittelraum und einem parkähnlichen Innenhof, in dem es den Landkindern möglich sein würde, mit der Natur Kontakt aufzunehmen. Moderne Zeiten und steigende Kinderzahlen legten einen Neubau nahe.
Die Tür stand offen. Auf der Tenne saß der alte Rennenfranz, Jahrgang 90, vor einer Staffelei und malte mit Wasserfarben ein Blumenstück. Er nickte Matthias freundlich zu und wischte sich die Finger ab: Klein-Wense? Da hat doch der alte Kallroy gewohnt, steht in jedem Lexikon, ein bißchen so ein Abklatsch von Vogeler, dächt er…
Die Frau des Kollegen trug einen Tisch vor die Dielentür, sie stellte Kaffeegeschirr hin. Und dann klappte Rennenfranz den Farbkasten zu, und sie setzten sich vor die offene Tür und schauten ins Land, das vor ihnen ausgebreitet lag, in verschiedenen Grüntönen gestreift, auch Gelb, und dazwischen ein Stück Wald. Die Wolken gehörten zu der Landschaft, sich auftürmende weiße Quellgebirge mit ein paar dunkleren Graustreifen darunter. In der Ferne waren Dörfer zu sehen, die Kirche von Sassenholz und die blinkenden Metallsilos von Klein-Wense. Ganz in der Ferne war sogar die alte Mühle zu erkennen mit dem einen fehlenden Flügel.
Obwohl Rennenfranz schon über Siebzig war, unterrichtete er freiwillig noch weiter, weil es keine Lehrer gab, die hierher nach Haufe gehen wollten, und weil er Spaß am Unterrichten hatte, wie er sagte. Er sei viermal vereidigt worden in seinem Leben, auf den Kaiser, auf Ebert, Hitler und jetzt auf die Verfassung. Vor dem Ersten Weltkrieg hatte er eine Präparandenanstalt besucht, und er unterrichtete noch immer nach Methoden, die man ihm damals eingebleut hatte. Die modifizierten Formalstufen praktizierte er in seinem Unterricht, das gab er unumwunden zu, und er lachte darüber. Die verschiedensten Schulräte hatten versucht, ihn davon abzubringen, dicke und dünne, mit und ohne Parteiabzeichen, wohlwollend oder barsch – er hatte sie noch alle überlebt: Vorbereitung, Darbietung, Verknüpfung, Zusammenfassung und Anwendung: Die Formalstufen saßen ihm in Fleisch und Blut. Und es war doch eigentlich auch nachzuvollziehen, für jeden normalen Menschen, daß ein Unterricht, der auf diesen Prinzipien aufgebaut ist, funktioniert.
Was war daran falsch? Niemand hatte es ihm je gesagt. Das Schematische war es, was Anstoß erregt hatte. Als ob es in der Welt nicht überall ein Schema gebe! Die Eisenbahn zum Beispiel, wie sollte die wohl ohne Fahrplan auskommen. Und die ganze Natur gehorche festen Gesetzen.
«Haben Sie sich schon mal eine Schneeflocke unterm Vergrößerungsglas angesehen?»
Vor 1914 Lehrer geworden, und nun saß er hier und malte… Seit Kollege Schmauch nicht mehr da sei, sei es ziemlich einsam geworden hier, sagte er. Kollege Klein in Sassenholz sei nicht so sehr sein Fall, komme dauernd an und frage, ob es im Dorf noch Dreschflegel gibt…
Frau Rennenfranz war eine fröhliche Natur. Es war seine zweite Frau, die erste war beim Bombenangriff auf Osnabrück umgekommen. Sie sagte«Opa»zu ihm und wischte ihm die Buttercreme von der Backe.
Matthias erzählte zunächst, daß er schon bei Lehrer Klein in Sassenholz gewesen war und beim Kollegen Neidholt in Westereistedt, der einen etwas sonderbaren Eindruck auf ihn gemacht habe…
«Ah – Neidholt? Wissen Sie, daß das ein unglaublich tapferer Soldat war? Drei Jahre Rußland. Das erzählen alle, hat Verwundete geborgen aus dem Niemandsland und so was alles, aber man darf ihn nicht darauf ansprechen… »
Dann durfte Matthias seine ganze Lebensgeschichte erzählen, und daß sein Vater städtischer Beamter gewesen sei und in den letzten Kriegstagen noch gefallen.
«Und Ihre Mutter?»
Ja, das war so eine Sache. Mit der Mutter habe er eben kaum noch Kontakt. – Das gäbe es, daß sich Kinder und Eltern nicht
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