Heiliger Zorn
auf besiedelten Welten in den Einsatz geschickt, verbrachte die Zeit dazwischen in der militärischen Einlagerung und in virtuellen Umgebungen. Die Zeit beschleunigte oder verlangsamte sich und wurde schließlich angesichts interstellarer Distanzen bedeutungslos. Allmählich verlor ich mein früheres Leben aus den Augen. Heimaturlaube waren selten und erweckten in mir nur das Gefühl der Deplatziertheit, was mich nicht dazu animierte, weitere Gelegenheiten zur Heimkehr zu nutzen. Als Envoy stand mir das gesamte Protektorat als Spielplatz zur Verfügung – also konnte ich genauso gut versuchen, möglichst viel davon zu sehen, hatte ich damals gedacht.
Und dann Innenin.
Wenn man die Envoys verließ, blieben einem nur sehr wenige berufliche Möglichkeiten. Niemand traute einem über den Weg, niemand wollte einem Kapital leihen, und nach den UN-Gesetzen war es einem kategorisch untersagt, Posten in Wirtschaft oder Politik anzunehmen. Abgesehen vom geradlinigen Weg in die Armut standen einem nur noch Laufbahnen als Söldner oder Krimineller offen. Die Kriminalität war sicherer und einfacher. Zusammen mit ein paar Kollegen, die nach dem Innenin-Debakel ebenfalls aus dem Corps ausgetreten waren, landete ich schließlich wieder auf Harlans Welt und leitete einen Ring, der sich außerhalb der einheimischen Polizei und der Kleinkriminellen bewegte, die miteinander Fangen spielten. Wir bauten uns einen guten Ruf auf, waren im Spiel immer einen Schritt voraus und räumten jeden, der sich uns widersetzte, wie Engelsfeuer aus dem Weg.
Ein Versuch, die Familie wieder zusammenzubringen, ging schon zu Anfang schief, und von da an wurde es noch schlimmer. Alles endete unter Gebrüll und Tränen.
Daran war ich genauso wie die anderen schuld. Meine Mutter und meine Schwestern waren mir bereits halb fremd geworden. Die Erinnerungen an unsere frühere Bindung waren nach dem Einsetzen meines glasklar und perfekt funktionierenden Envoy-Gedächtnisses bis zur Unkenntlichkeit verwischt. Ich hatte den Anschluss verloren und wusste nicht mehr, was für ein Leben sie führten. Die hervorstechendste Neuigkeit war, dass meine Mutter einen Rekrutierungsbeamten des Protektorats geheiratet hatte. Ich war ihm einmal begegnet und wollte ihn vom ersten Augenblick an töten. Diese Regung beruhte vermutlich auf Gegenseitigkeit. In den Augen meiner Familie hatte ich irgendwann eine Grenze überschritten. Und das Schlimmste war, dass sie Recht hatten. Wir waren nur unterschiedlicher Meinung, wo diese Grenze verlief. Für sie war es ganz eindeutig mein Übergang vom Militärdienst für das Protektorat zum Schritt in die unsanktionierte, am persönlichen Profit orientierte Kriminalität. Für mich hatte der Wechsel zu einem nicht so genau zu bestimmenden Punkt während meiner Zeit beim Corps stattgefunden.
Aber versuchen Sie mal, das jemandem zu erklären, der nicht dabei gewesen ist.
Ich harte es versucht, zumindest ansatzweise. Die Schmerzen, die es meiner Mutter unverzüglich und offensichtlich bereitete, hatten mich veranlasst, es gleich wieder aufzugeben. Auf diese Scheiße konnte sie verzichten.
Am Horizont hatte sich die Sonne zu geschmolzenen Resten reduziert. Ich blickte nach Südosten, wo sich die Dunkelheit sammelte, ungefähr in Richtung Newpest.
Wenn ich dort war, würde ich keine alten Bekannten besuchen.
Das Schlagen ledriger Schwingen über mir. Ich blickte auf und sah einen Reißflügler, der über dem Frachtcontainer beidrehte. Das Schwarz wurde in den letzten Sonnenstrahlen zu irisierenden Grünschattierungen. Er umkreiste mich ein paarmal, dann landete er unverschämte sechs Meter von mir entfernt auf dem Steg. Ich drehte mich vorsichtig zu ihm um und beobachtete ihn. Hier um Kossuth traten sie seltener in Schwärmen auf und wurden größer als die Exemplare, die ich in Drava gesehen hatte. Dieses Tier maß einen guten Meter von den mit Schwimmhäuten versehenen Krallen bis zum Schnabel. Er war so groß, dass ich froh war, bewaffnet zu sein. Er legte raschelnd die Flügel zusammen, hob eine Schulter in meine Richtung und betrachtete mich aus einem Auge, ohne zu blinzeln. Er schien auf etwas zu warten.
»Was gibt’s da zu gucken?«
Eine Weile blieb der Reißflügler still. Dann bog er den Hals durch, spannte die Schwingen und kreischte mich ein paarmal an. Als ich mich nicht rührte, hockte er sich wieder hin und legte fragend den Kopf schief.
»Ich werde sie nicht besuchen«, sagte ich nach einiger Zeit zu ihm. »Also
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