Heiliges Feuer
Platz.
»Wann brechen Sie auf?«, fragte Maya.
»Morgen. In aller Frühe.«
»Darf ich hier sitzen bleiben und auf Sie warten?«
»Wenn Sie mir versprechen, die Kerzen auszublasen«, antwortete Novak. Und stapfte die Treppe hoch. Zehn Minuten später kam sein Arm heruntergehüpft und verschwand hinter der Wandklappe.
Am Morgen brachen sie auf nach Rom. Frau Novakova hatte ihrem Mann einen gewaltigen Koffer mit Tragriemen gepackt. Novak verzichtete darauf, seine Armprothese mitzunehmen.
Maya schulterte ihren Rucksack. Brav erbot sie sich, Novaks Koffer zu tragen. Novak reichte ihn ihr bereitwillig. Er wog eine halbe Tonne. Novak sammelte sich, seufzte verstimmt, öffnete widerwillig die Tür und überquerte mit drei Schritten den alten Gehsteig. Am Bordstein parkte eine brandneue, funkelnde Limousine.
Maya verstaute das Gepäck im Kofferraum und stieg in den Wagen, der sich lautlos öffnete. »Weshalb kommt Ihre Frau nicht mit nach Rom?«
»Ach, diese geschäftlichen Anlässe sind äußerst öde, reine Verpflichtung. Sie langweilt sich dabei.«
»Wie lange sind Sie schon mit Milena verheiratet?«
»Seit 1994«, brummte Novak. »Mittlerweile besteht die Ehe nur noch auf dem Papier. Wir leben wie Bruder und Schwester zusammen.« Er rieb sich das Kinn. »Nein, das ist nicht ganz zutreffend. Wir haben die Bürde der Geschlechtlichkeit abgestreift. Wir bilden eine Art Lebensgemeinschaft.«
»Es kommt nicht oft vor, dass Menschen ein ganzes Jahrhundert lang verheiratet sind. Sie sind bestimmt sehr stolz darauf.«
»Machbar ist es schon. Man muss einander die schreckliche Vulgarität des geschlechtlichen Begehrens verzeihen - außerdem sind Milena und ich beide Sammler, wir werfen nicht gerne etwas weg.« Novak langte unter seinen Kragen und holte das Netzgerät hervor. Er tippte eine Adresse ein.
»Hallo?«, blaffte er. »Ah, Voice-Mail, ja?« Novak wechselte gereizt ins Tschechische. »[Gehen Sie mir immer noch aus dem Weg? Dann hören Sie mir mal zu, Sie Schmarotzer! Es ist einfach unglaublich - unvorstellbar! -, dass ein alter Invalide ohne rechten Arm, vergessen von der Welt, ohne richtiges Atelier und ohne professionelle Unterstützung, jährlich dreißigtausend Mark Umsatzsteuer zahlen soll! Das ist grotesk! Zumal was das Jahr 2095 angeht, ein Jahr mit äußerst kargen Einkünften! Und was soll dieses Gewäsch von wegen ausstehender Zahlungen? Sie verlangen eine Nachzahlung? Säumniszuschläge obendrein? Nachdem Sie uns haben ausb luten lassen? Einen Verdienten Künstler der Tschechischen Republik! Den fünfmaligen Gewinner des Preises der Stadt Prag! Nachdem Sie uns mit Ihren wahnsinnigen Nachstellungen an den Rand des Ruins getrieben haben! Das ist ein Skandal! Sie werden noch von mir hören, Sie skrupelloser Gauner.]« Er unterbrach die Verbindung.
»Man sagt es ihnen immer wieder«, klagte er. »Man überhäuft sie mit Attesten, Ersuchen, Dokumenten, die Korrespondenz zieht sich Jahr um Jahr hin! Ach, es ist zwecklos. Die sind wie Capeks Roboter.« Er schüttelte den Kopf, dann lächelte er grimmig. »Aber ich bin trotzdem guten Mutes! Denn ich bin sehr geduldig, deshalb werde ich sie aussitzen.«
Am Prager Flugplatz erwartete sie ein Privatflugzeug, eine elegante Maschine in Weiß, Silber und Pfauenblau. »Sehen Sie sich das mal an«, grollte Novak am Fuß der ausgeklappten perforierten Gangway. »Giancarlo hätte mir einen Steward mitschicken sollen. Er weiß doch, wie es um mich steht.«
»Lassen Sie mich Ihre Stewardess sein.« Maya öffnete den Kofferraum und holte das Gepäck heraus.
»Giancarlo ist ja so di moda. Sie sollten mal sein Schloss in Gstaad sehen, wo es von diesen Stuttgarter Krabben nur so wimmelt. Wenn die durchdrehen, bringen einen diese verrückten Maschinen glatt um. Schneiden einem mit ihren Zangen im Schlaf die Kehle durch.« Novak trat beiseite, und Maya schleppte das schwere Gepäck ins Flugzeug. Anschließend stieg er hurtig die Gangway hoch.
Es gab keine Sitzsäcke. Maya sah sich verwirrt um. Als Novak Anstalten machte, sich auf den Boden zu setzen, entfaltete sich unter ihm lautlos und mit wahnsinniger Geschwindigkeit ein Sessel. Der Boden ähnelte edlem italienischem Marmor, doch wenn man sich setzte, stieß er blitzschnell einen durchsichtigen, luftgefüllten Sessel aus. Auch Maya setzte sich und wurde ebenfalls von einem Sessel aufgefangen. »Ein hübsches Flugzeug«, sagte sie, die nachgiebigen Armlehnen tätschelnd.
»Danke, Madam«, sagte das Flugzeug.
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