Heiliges Feuer
»Sind Sie bereit zum Abflug?«
»Ich denke schon«, knurrte Novak. Die langen, schlanken Flügel begannen lautlos zu vibrieren. Das Flugzeug stieg senkrecht in die Luft.
Novak blickte in schweigender Konzentration aus dem Fenster, bis sein geliebtes Prag nicht mehr zu sehen war. Dann wandte er sich an Maya.
»Arbeitest du als Model? Ja, bestimmt«, sagte er.
»Manchmal.«
»Hast du eine Agentur?«
»Nein. Ich habe noch nie Geld dafür bekommen.« Sie stockte. »Ich will nicht für Geld als Model arbeiten. Aber wenn Sie möchten, stehe ich Ihnen Modell.«
»Kannst du Kleider herzeigen? Weißt du, wie man richtig geht?«
»Ich habe beobachtet, wie Models gehen ... Aber nein, ich weiß es nicht.«
»Dann bringe ich’s dir bei«, sagte Novak. »Pass gut auf, wie ich die Füße setze.« Als sie aufstanden, verschwanden die Sessel so blitzartig wie geplatzte Seifenblasen. Jetzt hatten sie eine Menge Platz zum Üben.
Im Jahr 2065 unterzog Innozenz XIV. sich als erster Papst einer Lebensverlängerung. Die Details der Behandlung blieben geheim, eine seltene und sehr diplomatische Ausnahme von der üblichen Praxis totaler medizinischer Offenheit. Die Entscheidung des Papstes sowie die damit einhergehende tief greifende Verletzung des gottgegebenen Gesetzes, wonach jedem Lebewesen eine bestimmte Lebensspanne zubemessen ist, stellte den normalen Prozess der päpstlichen Nachfolge infrage und stürzte die Kirche in eine Krise.
Die Kardinalsversammlung, welche die Implikationen der päpstlichen Handlungsweise beraten wollte, erlebte eine göttliche Vision. Ihre spirituelle Verzückung, ihr ekstatisches Tanzen und das Reden in Zungen hatten auf Skeptiker die Wirkung einer chemisch induzierten Halluzination. Diejenigen aber, welche bei der Herabkunft des heiligen Geistes zugegen gewesen waren, hegten keinerlei Zweifel an seinem göttlichen Ursprung. Die Kirche hatte die lieblosen Spekulationen der Skeptiker bislang stets überlebt.
Auf diese göttliche Offenbarung folgte alsbald die offizielle kirchliche Missbilligung gewisser Methoden der Posthumanisierung. Stattdessen empfahl die Kirche nun ihre eigenen lebensverlängernden Techniken. Diese anerkannten medizinischen Prozeduren wie auch die modernen Abendmahlsfeiern mit entheogenen Tinkturen sowie verschiedene spirituelle Disziplinen firmierten unter dem Oberbegriff ›Die neue Nachfolge Christi‹.
Der demütige und metabolisch unermüdliche Heilige Vater, dessen langer weißer Bart mittlerweile zur Hälfte schwarz nachgewachsen war, hatte sich zur zentralen, ikonenhaften Figur der europäischen Moderne entwickelt. Viele hatten in Innozenz zunächst einen bloßen Karrieristen gesehen, den genialen Verwalter eines im Niedergang begriffenen uralten Glaubens. Nach der Herabkunft des Heiligen Geistes aber wurde offenbar, dass der wiedergeborene Papst wahrhaft übermenschliche Qualitäten besaß. Seine erstaunliche Eloquenz, seine Ernsthaftigkeit und sein offensichtlicher guter Wille beeindruckten selbst die zynischsten Kritiker.
Während seine chemisch gestärkte Kirche den verlorenen Boden des alten Christentums zurückeroberte, bewirkte der Statthalter Christi Wunder, wie man sie seit der Zeit der Apostel nicht mehr gesehen hatte. Der Papst heilte Lahme und Hinkende mit einem Wort und einer Berührung. Er trieb Geisteskranken die Dämonen aus. Deren Besserung war zudem häufig von Dauer.
Außerdem sprach er Prophezeiungen aus - detailliert und häufig zutreffend. Viele Menschen glaubten, der Papst könne Gedanken lesen. Paranormale Fähigkeiten wurden ihm nicht nur von gläubigen Katholiken zugeschrieben, sondern auch von Diplomaten, Staatsmännern, Wissenschaftlern und Rechtsanwälten. Sein unheimlich anmutendes Einfühlungsvermögen hatte er des Öfteren auf der politischen Bühne unter Beweis gestellt. Seelisch verhärtete Kriegsherren und erfolgreiche Kriminelle verließen die Privataudienz beim Pontifex als gebrochene Männer, die öffentlich ihre Sünden bekannten.
Papst Innozenz hatte den Armen geholfen, den Heimatlosen Obdach gegeben, widerspenstige Regierungen beschämt und zu einer neuen, menschlicheren Politik bewegt. Er hatte große Hospitäler gegründet, dazu Lehrorden, Bibliotheken, Netsites, Museen und Universitäten. Er hatte Europa mit einem Netzwerk von Herbergen und Unterkünften für die Bettelorden und Pilger überzogen. Er hatte den Vatikan restauriert und alte Kathedralen und Kirchen in spirituelle Zentren der Christenheit verwandelt, die
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