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Heiliges Feuer

Heiliges Feuer

Titel: Heiliges Feuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bruce Sterling
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Nichts ist sicher, nichts ist von Dauer.«
    Novak musterte sie voll resignativem Misstrauen; von einem Moment auf den anderen wirkte er bäurisch-durchtrieben mit seinen abstehenden Ohren, den struppigen Augenbrauen und der geschwollenen Altmännernase, die an eine Kartoffel erinnerte. »Wir besitzen nichts, wir haben kein Vermögen. Wir sind alte Leute, aber wir können dir nichts bieten, Mädchen. Du solltest fortgehen, dann ersparst du uns allen Ärger.«
    »Aber Sie sind berühmt.«
    »Ich habe meinen Ruhm überlebt, ich bin vergessen. Ich mache nur deshalb weiter, weil ich nicht anders kann.«
    Maya blickte sich im Wohnzimmer um. Eine einzigartige Mischung aus eklektischem Krimskrams und äußerster Sauberkeit. Zahllose kleine Objekte aus dem Grenzbereich von Kunst und Kitsch. Eine Bibliothek vom Zahn der Zeit angenagter technischer Spielereien. Gleichwohl war kein einziges Staubkörnchen zu sehen. Wer die Musen verehrt, betreut am Ende ein Museum.
    Die brennenden Kerzen schmolzen ihre weißen Flammen in die Wachsschäfte ein. Dem weißhaarigen Novak machte das lang währende Schweigen offenbar nichts aus.
    Maya deutete auf ein Fach weit oben im Bienenwabenregal. »Diese Kristallvase«, sagte sie, »diese Karaffe.«
    »Altes böhmisches Glas«, meinte Novak.
    »Sie ist wunderschön.«
    Novak stieß einen leisen Pfiff aus. In der Wand neben der Küche öffnete sich eine Klapptür, und ein menschlicher Arm fiel heraus.
    Der Arm landete mit dem fleischigen Klatschen der fünf gespreizten Finger auf dem Holzboden. Die nackte Schulter endete in einem gekräuselten Stummel, ähnlich dem Fuß einer Entenmuschel.
    Der Arm krümmte sich und sprang, krümmte sich und sprang, kapriolte über den kerzenerhellten Boden. Er krümmte sich erneut und spannte sich, dann schlängelte er sich mit unglaublicher Geschwindigkeit in Novaks leeren Jackenärmel.
    Novak verdrehte die Augen, zuckte ein wenig, dann hob er die künstliche Hand und bog die Finger.
    Dann stützte er sich beiläufig auf den linken Ellbogen und langte weit durchs Zimmer. Der rechte Arm dehnte sich, die unbehaarte Haut wurde blasig und körnig, der Unterarm kontrahierte, bis er so dünn wie ein Vogelknochen war. Mit der weit entfernten Hand packte er die Karaffe. Als er den Arm wieder einzog, nahm dieser mit einem leisen inwendigen Knirschen wieder seine normale Größe an; es hörte sich an, als liefe jemand über Asche.
    Er reichte Maya die Karaffe. Sie musterte das Gefäß im Kerzenschein.
    »So etwas ähnliches habe ich schon einmal gesehen«, sagte sie. »Ich habe eine Zeit lang darin gelebt. Es war ein ganzes Universum.«
    Novak zuckte die Achseln. Mit dem neuen Arm gelang ihm dies erstaunlich gut. »Die Dichter haben dies auch schon von einem einzigen Sandkorn behauptet.«
    Maya schaute hoch. »Das Glas besteht aus Sand, nicht wahr? Eine Kameralinse besteht aus Sand. Ein Datenbit ist ein einzelnes Sandkorn.«
    Novak lächelte. »Ich habe eine gute Neuigkeit für dich«, sagte er. »Du gefällst mir.«
    »Es ist wundervoll, das Glaslabyrinth zu halten«, sagte sie, die Karaffe in Händen wendend. »In virtueller Form kam es mir viel realer vor.« Sie reichte ihm das Gefäß zurück.
    Novak betrachtete die Karaffe, streichelte mit der Linken darüber; die Rechte ähnelte einer handschuhförmigen Ansammlung von Gummipinzetten. »Das Gefäß ist sehr alt. Ein Stück vom Dachboden der Antike. Ach, die griechische Attika!« Er begann auf tschechisch zu rezitieren. »[Gestaltet mit marmornen Männern und Frauen und Ästen aus dem Wald und von Füßen zertretenem Kraut. Du stilles Gebilde. Du bewegst unseren Geist, als wärst du die Ewigkeit. Du Gedicht aus Eis! Wenn das Alter diese Generation dahinrafft, wirst du im Dickicht anderer Menschen Sorgen überdauern. Ein Freund der Menschheit. Du sprichst zu uns: ›Schönheit ist Wahrheit, und Wahrheit ist Schönheit.‹ Wir wissen nicht mehr, und mehr brauchen wir auch nicht zu wissen.]«
    »War das ein Gedicht?«
    »Ein altes englisches Gedicht.«
    »Weshalb rezitieren sie es dann nicht auf englisch?«
    »Das Englische hat keine Poesie. Bei der weltweiten Ausbreitung hat sie all ihre Poesie eingebüßt.«
    Maya dachte darüber nach. Es klang plausibel und schien eine Menge zu erklären. »Finden Sie denn, dass das Gedicht auf tschechisch noch richtig klingt?«
    »Das Tschechische ist eine veraltete Plattform«, sagte Novak. Er erhob sich, streckte den Arm wie Plastilin und stellte die Karaffe wieder auf ihren

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