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Heiliges Feuer

Heiliges Feuer

Titel: Heiliges Feuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bruce Sterling
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widerhallten von der eindrucksvollen himmlischen Virtualität der modernen Messe. Er war gewiss der bedeutendste Papst des einundzwanzigsten Jahrhunderts, wahrscheinlich sogar der bedeutendste Papst des vergangenen Jahrtausends, vielleicht der bedeutendste Papst überhaupt. Die Heiligsprechung war ihm gewiss, sollte er jemals Zeit und Gelegenheit finden, zu sterben.
    Maya besuchte in Rom eine Messe. Tags zuvor hatte sich ein Wunder ereignet. Seit es Entheogene gab, waren Wunder recht alltäglich geworden; mittlerweile bedurfte es schon außergewöhnlicher Umstände, um dem Übernatürlichen öffentliche Aufmerksamkeit zu verschaffen. Dieses neueste Wunder hatte mehr als genug an Übernatürlichem geboten: die Jungfrau Marie war zwei Kindern, einem Hund und einer öffentlichen Telepräsenzsite erschienen.
    Kinder nahmen normalerweise keine Entheogene. Selbst postcanine Hunde waren im Allgemeinen nicht sonderlich empfänglich für spirituelle Erfahrungen. Und die Aufzeichnungen öffentlicher Telepräsenzsites galten als fälschungssicher; jedenfalls war es nicht normal, dass sie über der Viale Gugliemo Marconi schwebende kissenförmige leuchtende Flecken zeigten.
    Die Römer waren Wundern gegenüber normalerweise ziemlich gleichgültig. Die Vorgänge im Vatikan ließen gebürtige Römer meistens kalt. Gleichwohl waren aus ganz Europa Gläubige herbeigeströmt, um zu beten, Buße zu tun, Reliquien zu besuchen und das Medienspektakel zu genießen. Der Verkehr - Busse, Fahrräder, Wohnwagen, Touristengruppen in den Gewändern des Franziskanerordens - war unglaublich dicht, laut, festlich, außer Rand und Band, eben wahrhaft italienisch. Außerdem regnete es.
    Maya blickte durch das regenüberströmte Fenster der Limousine. »Josef, sind Sie religiös?«
    »Es gibt viele Welten. Es gibt eine Welt, die man im Dunkeln wahrnimmt«, sagte Novak und tippte sich an die Stirn. »Da ist einmal die materielle Welt, die von der Sonne erhellt wird. Dann gibt es die Virtualität, unsere moderne, immaterielle Scheinwelt. Die Religion ist auch eine Art Virtualität. Eine sehr alte.«
    »Aber sind Sie gläubig?«
    »Ich habe ein paar sehr bescheidene Überzeugungen. Ich glaube, wenn man einen Gegenstand nimmt und ihn mittels Licht zum Leben erweckt und diese Wahrnehmung von Leben in eine virtuelle Darstellung aufnimmt, erzielt man das, was man als ›Ästhetik‹ bezeichnet. Manche Leute haben ein starkes irrationales Verlangen nach Religion. Ich habe ein starkes irrationales Verlangen nach Ästhetik. Ich kann nicht anders, und darüber zu debattieren interessiert mich nicht. Daher lasse ich die Gläubigen in Ruhe, solange sie mich in Ruhe lassen.«
    »Aber heute sind hier bestimmt eine halbe Million Menschen auf den Beinen! Und das alles wegen einem Hund, einem Computer und zwei Kindern. Was halten Sie davon?«
    »Ich glaube, Giancarlo wird verärgert sein, dass man ihm die Schau stiehlt.«
    Die für den römischen Verkehr viel zu sperrige Limousine brachte sie zum Hotel, das natürlich völlig ausgebucht war. Novak ließ sich mit der Dame an der Rezeption auf eine mehrsprachige Diskussion ein und rang ihr zum Missvergnügen der übrigen Bewerber in der Lobby zwei Einzelzimmer ab. Maya badete und gab ihre Kleider zur Reinigung.
    Als sie zurückkamen, war auch ein Abendkleid dabei. Novaks Vorstellung von einem femininen Abendkleid wirkte rührend altmodisch, doch das Kleid war frisch hergestellt und passte dank Novaks ausgezeichnetem Sinn für Proportionen auch hervorragend.
    Giancarlo Vietti, der Meistercouturier des Emporio Vietti, stellte seine fünfundsiebzigste Frühjahrskollektion vor. Ein Ereignis dieser Größenordnung verlangte nach einer angemessenen Umgebung. Vietti hatte das Kio-Amphitheater gemietet, ein Kolosseum von exquisitem Stil, erbaut von einem exzentrischen japanischen Milliardär, nachdem der Flaminio-Bezirk bei einem Erdbeben verwüstet worden war.
    Das Taxi hielt vor den rosenaroten Marmorsäulen des Kio, und sie stiegen auf einer Promenade aus, die von römischen Paparazzi mit Cyberbrillen wimmelte. Novak war offenbar nicht sonderlich bekannt in Rom, doch als Einarmiger fiel er sofort auf. Er ignorierte die lärmenden Paparazzi, ließ sich aber Zeit damit.
    Sie stiegen die Treppe hoch. Novak musterte die Fassade aus falschem Marmor mit wildem Blick. »Der lebende Beweis dafür, dass die Vergangenheit einen unerschöpflichen Vorrat an Vorbildern liefert«, murmelte er. »Es wäre besser gewesen, Indianapolis

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