Heiliges Feuer
von Stadtplänen. Marcel lebte in diesem Mantel, schlief darin und benutzte ihn als Navigierhilfe. Jetzt, da Maya wusste, wie nützlich Marcels Mantel war, kam er ihr weit weniger lebendig vor. Paul hätte diese Wahrnehmung als Kategorienirrtum bezeichnet.
Sie küsste Marcel auf die bärtige Wange. »Ciao.«
»Meinen Glückwunsch zu deinem Italienabenteuer. Es heißt, Vietti wolle ums Verrecken einen neuen Auftritt mit dir vereinbaren.«
»Giancarlo stirbt nicht, Schätzchen, da brauchst du dir gar keine Hoffnungen zu machen.«
»Wie ich sehe, hast du deinen Gönner mitgebracht. Deinen Fotografen. Er ist wohl dein derzeitiger Favorit.«
»Er ist mein Lehrer, Marcel. Sei nicht taktlos.«
»Ich habe mein Postfach so eingerichtet, dass deine Mails auf französisch vorgelesen werden«, sagte Marcel. »Ich wünschte, du würdest mir öfter etwas posten. Auf französisch sind deine Kommentare bemerkenswert. Da sind Geistesblitze drin, die im englischen einfach nicht mehr zu finden sind.«
»Ja, gute Übersetzungen haben eine Qualität, die im Original kaum erreichbar ist.«
»Das war schon wieder einer, Schätzchen. Wie machst du das? Ist das Absicht?«
»Du bist sehr aufmerksam, Liebling. Wenn du mir keinen Frappe holst, muss ich dich küssen.«
Marcel wog die Möglichkeiten gegeneinander ab und holte ihr einen Frappe. Maya kostete davon und blickte sich, auf einen Ellbogen gestützt, in der Kneipe um. »Warum wirkt es heute eigentlich so lebendig hier?«
»Tatsächlich? Paul plant einen Frühlingsausflug. Eine größere Immersion. Ich hoffe, du machst mit.«
»Oh, eine größere Immersion möchte ich auf keinen Fall versäumen.« Maya hatte keine Ahnung, wovon Marcel eigentlich sprach. »Wo ist Paul?«
Paul saß inmitten einer Gruppe von etwa zwölf Leuten. Sie lauschten ihm fasziniert.
Paul öffnete eine kleine Versandbox aus Metall und holte eine lebensgroße Krötenfigur hervor. Die gedrungene, glänzende Kröte schien aus massivem Gummi zu bestehen.
»Ist sie nicht wunderschön?«, fragte Paul. »Sergei, sag was.«
»Na ja«, meinte Sergei, »wenn sie aus dem Atelier von Faberge stammt, wie du sagst, dann ist sie natürlich wunderschön. Sieh dir nur mal die wundervolle Verarbeitung an.«
»Das ist eine Kröte, Sergei. Sind Kröten schön?«
»Natürlich kann eine Kröte schön sein. Hier ist der Beweis.«
»Wenn dir jemand sagen würde, du wärst so schön wie eine Kröte, wärst du darüber erfreut?«
»Du wechselst den Kontext«, erklärte Sergei eingeschnappt.
»Aber macht das nicht eher die Figur? Der Schock des Erstaunens ist der Kern seiner Ästhetik. Stell dir die Menschen im Jahre 1912 vor, die Monate damit zubrachten, einen seltenen Stein in hingebungsvoller Handarbeit in eine Kröte zu verwandeln. Ist das nicht pervers? Aber genau diese Perversität verleiht der Figur ihre besondere Bedeutung. Das ist ein Original von Faberge, hergestellt für eine zaristische Aristokratin. Die Zarengesellschaft war eine Kultur, die juwelenbesetzte Kröten hervorgebracht hat.«
Pauls kleine Zuhörerschaft wechselte unbehagliche Blicke. Niemand wagte es, ihn zu unterbrechen.
»Aber können wir daraus schließen, dass zaristische Aristokratinnen Kröten schön fanden? Glaubt jemand hier in der Runde, irgendeine zaristische Aristokratin habe das Atelier Faberge gebeten, eine wunderschöne Kröte anzufertigen?« Paul blickte in die Runde. »Aber meint ihr nicht, sie war mit dem Resultat zufrieden? Als es erst einmal in ihrem Besitz war, fand sie es bestimmt wunderschön.«
»Ich mag die Kröte«, warf Maya ein. »Ich hätte nichts dagegen, wenn sie mir gehören würde.«
»Was würdest du damit anfangen, Maya?«
»Ich würde sie auf meinen Schreibtisch setzen und mich täglich an ihr erfreuen.«
»Dann nimm sie«, sagte Paul. Er reichte sie ihr. Die Kröte war erstaunlich schwer; sie fühlte sich genau so an wie eine rote Steinkröte.
»Das ist natürlich nicht das wertvolle Original«, meinte Paul beiläufig. »Es ist ein identisches Museumsreplikat. Faberges Original wurde mit einer Genauigkeit von ein paar Mikron lasergescannt und anschließend mittels eines modernen Vakuumsedimentverfahrens nachgebildet. Es wurden sogar ein paar Fehler eingefügt, damit der künstliche Rubin vom ursprünglichen Korund, aus dem der natürliche Rubin besteht, unterscheidbar ist. Insgesamt wurden etwa hundert Kröten hergestellt.«
»Ah ... ja, natürlich«, sagte Maya. Sie betrachtete die kleine rote Kröte. Auf
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