Heiliges Feuer
Strichen skizzierte sie ein Koordinatensystem. »Die x-Achse entspricht der verstreichenden Zeit. Und das hier ist der Anstieg der Lebenserwartung. Für jedes verstreichende Jahr erhöht sich die posthumane Lebenserwartung um etwa einen Monat.«
»Und?«
»Die Kurve ist nicht exakt linear. Die Steigung nimmt zu. Irgendwann wird die Steigerungsrate ein Jahr pro Jahr betragen. Dann werden die Überlebenden praktisch unsterblich sein.«
»Kann schon sein. Vielleicht.«
»Das ist natürlich keine wahre ›Unsterblichkeit‹. Unfälle sind niemals auszuschließen. Am Unsterblichkeitspunkt« - Benedetta malte ein kleines schwarzes Kreuz - »beträgt die durchschnittliche Lebenserwartung unter Berücksichtigung von Unfällen etwa vierzehnhundertfünfzig Jahre.«
»Schön für diese Generation.«
»Die erste Generation, die diesen Punkt erreicht, wird die erste wahre Gerontokratie sein. Diese Generation wird nicht mehr aussterben. Eine Generation, welche die Kultur in alle Ewigkeit dominieren wird.«
»Also, von derlei Spekulationen habe ich auch schon gehört, meine Liebe. Das ist ein hübsches Rechenkunststück und eine interessante Theorie, wie ich finde.«
»Es war einmal eine Theorie. Für dich ist es Theorie. Für uns ist es Realität. Maya, wir sind diese Leute. Wir sind die glückliche Generation. Wir sind die ersten Menschen, die zum richtigen Zeitpunkt geboren wurden. Wir sind die ersten wahren Unsterblichen.«
»Ihr seid die ersten Unsterblichen?«, wiederholte Maya bedächtig.
»Ja, das sind wir; und dazu kommt, dass wir es wissen.« Benedetta lehnte sich zurück und steckte sich den Stift wieder ins Haar.
»Weshalb trefft ihr euch dann in einer schäbigen Künstlerkneipe und schmiedet politische Ränke?«
»Irgendwo müssen wir ja zusammenkommen«, entgegnete Benedetta lächelnd.
»Irgendeine Generation musste es treffen«, meinte eine der Frauen gereizt. »Und das Los fiel auf uns. Wir machen nicht viel her. Es hat auch niemand angenommen, dass wir großen Eindruck auf dich machen würden.«
»Dann haltet ihr euch also wirklich für unsterblich.« Maya betrachtete das Gekritzel auf dem Furoshiki. »Und wenn in euren Berechnungen ein Fehler steckt? Vielleicht fällt die Steigung der Kurve ja geringer aus.«
»Das wäre wirklich schlimm«, sagte Benedetta. Sie nahm den Stift wieder zur Hand und zeichnete die Kurve sorgfältig neu. »Siehst du? Sehr schlimm. Dann würden wir bloß neunhundert Jahre alt.«
Maya betrachtete die fatale Kurve. Für sie selbst stieg sie an. Für die anderen explodierte sie. »Aus der Kurve geht hervor, dass ich es niemals schaffen werde«, meinte sie traurig. »Die Kurve beweist, dass ich verdammt bin.«
Benedetta nickte, erfreut darüber, dass sie es begriffen hatte. »Ja, Schätzchen, das wissen wir. Aber wir machen dir wirklich keinen Vorwurf daraus.«
»Wir brauchen trotzdem den Palast«, sagte eine andere Frau.
»Wozu braucht ihr den Palast?«
»Wir wollen etwas darin installieren«, sagte Benedetta.
Maya runzelte die Stirn. »Gibt es im Palast nicht schon Ärger genug? Was wollt ihr installieren?«
»Erkenntnissachen. Wahrnehmungssachen. Softwarefabriken für das heilige Feuer.«
Maya ließ sich das durch den Kopf gehen. Das klang ihr alles weit hergeholt. »Was versprecht ihr euch davon?«
»Es soll uns in die Lage versetzen, uns zu verändern. Damit wir unsere eigenen Fehler machen, anstatt die Fehler anderer Leute zu wiederholen. Wir hoffen, dass wir dadurch zu Kunsthandwerkern werden, welche die Unsterblichkeit verdient haben.«
»Glaubt ihr wirklich, ihr könntet - ja, was eigentlich? - euren Wahrnehmungsapparat radikal verändern? Und das ausschließlich in der Virtualität?«
»Nicht mit den Virtualitätsprotokollen, die uns heute zur Verfügung stehen. So etwas lässt sich nicht bewerkstelligen, solange der Sozialdienst zuschaut, denn die öffentlichen Netzwerke sind auf Sicherheit und Zuverlässigkeit hin ausgelegt. Aber mit Protokollen, von denen bislang keiner träumt - damit schon. Genau das versprechen wir uns davon.«
Maya seufzte. »Damit wir uns richtig verstehen. Ihr wollt meinen Palast öffnen und darin irgendein brandneues, illegales, bewusstseinsveränderndes, gehirnschädigendes Virtualitätssystem installieren?«
»Der Ausdruck ›kognitive Verstärkung‹ trifft es besser«, sagte Benedetta.
»Das ist doch verrückt, Benedetta. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ihr das ernst meint. Das hört sich an wie ein Plan, den irgendein
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