Heiliges Feuer
war damals fast unbehaart ... Er arbeitete als Mikrobiologe an der Karls-Universität. Klaus und ich, wir haben damals eine Fotoserie mit experimentellen Landschaften gemacht, und zwar mit lichtabsorbierenden Bakterien ... Das Licht fiel auf geimpfte Petrischalen. Die Entwicklung dauerte viele Tage. Die Bakterien sind nur dort gewachsen, wo das Licht hinfiel. Diese Bilder wirkten wie organische Daguerrotypien. In den folgenden Wochen beobachteten wir die allmähliche Zersetzung. Manchmal ... eigentlich sogar recht häufig ... stellte sich eine bizarre Schönheit ein.«
»Ich bin ja so froh, dass Sie mich begleiten und meine Freunde kennen lernen wollen, Josef. Das bedeutet mir wirklich eine Menge.«
Novak lächelte kurz. »[Diese kleinen Emigrantengemeinschaften in Prag mögen zwar die hiesige Architektur lieben, aber uns Tschechen nehmen sie nicht ausreichend zur Kenntnis. Vielleicht gelingt es uns, wenigstens den Kindern bessere Manieren beizubringen.]«
Novak hatte leichthin gesprochen, doch er hatte sich das Haar gekämmt, war sorgfältig gekleidet und trug die Armprothese. Er begleitete sie, weil sie ihm inzwischen einigen Respekt abgenötigt hatte.
Sie hatte ihren Lehrer mittlerweile recht gut kennengelernt. Seine Persönlichkeit war wie alter Käse mit bläulichen Adern der Verstellung, Korruptheit und Gereiztheit durchsetzt. Mit Boshaftigkeit aber hatte das nichts zu tun. Vielmehr handelte es sich um Sturheit, Ausdruck einer halsstarrigen, perversen Integrität. Josef Novak war mit Haut und Haar sein eigener Herr. So hatte er jahrzehntelang gelebt, so offen und schamlos, wie sie selbst es sich nur in der Phantasie gestattete. Obwohl er niemals glücklich schien und wahrscheinlich auch nie ein glücklicher Mensch gewesen war, war er tief im Innern doch vollkommen gelassen. Er war ganz und gar Josef Novak. Er würde Josef Novak bleiben bis zu seinem Tod.
In fünf Jahren wäre er tot - zumindest lautete so ihre Schätzung. Er war gebrechlich und früher einmal schwer verletzt worden. Er hätte durchaus noch Schritte zur Lebensverlängerung unternehmen können, doch dieses Bemühen betrachtete er offenbar als vulgär. Josef Novak war hunderteinundzwanzig Jahre alt, ein weit höheres Alter, als die Angehörigen seiner Generation je erwartet hatten. Er war ein Relikt, gleichwohl kam es Maya ungerecht vor, dass er sterben sollte. Novak sprach häufig über seinen bevorstehenden Tod, ohne dass er sich davor gefürchtet hätte, doch Maya fand, ein gerechtes Universum hätte einem Menschen wie Josef Novak ewiges Leben gegönnt. Er war ihr Lehrer, und sie hatte ihn mittlerweile sehr lieb gewonnen.
Im Tete ging es hoch her. Es waren viel mehr Leute da, als sie erwartet hatte, und es hing eine ungewohnte Spannung in der Luft. Sie und Novak loggten sich an der Bar ein. Novak langte über den Abstand von vier Metern hinüber und tippte sachte gegen Klaus’ Helm. Klaus drehte sich um, stutzte, dann grinste er breit. Die beiden alten Männer begannen eine Unterhaltung auf tschechisch.
»Ciao, Maya.«
»Ciao, Marcel.« Marcel kannte sie vom Netz her - so gut wie alle anderen ihn kannten. Der rothaarige und geschwätzige Marcel gab nicht viel von sich preis. Er war siebenundzwanzig Jahre alt und, seiner eigenen Schätzung zufolge, bereits dreihundertvierzehn Mal um die Welt gereist. Marcel hatte keine feste Adresse, und zwar seit dem Alter von zwei Jahren nicht mehr. Marcel hielt sich die meiste Zeit in Zügen auf.
Benedetta, die gern klatschte, behauptete, Marcel habe das Williams-Syndrom. In seinem Fall handele es sich um eine vorsätzlich herbeigeführte Störung, nämlich um eine abnormale Vergrößerung des Heschl-Gyrus im kortikalen Hörzentrum. Marcel litt an Hyperakusie und hatte das absolute Gehör; er war Musiker und stellte Klänge für virtuelle Installationen her. Das Syndrom hatte auch Auswirkungen auf Marcels Sprachvermögen; er war eine unerschöpfliche Quelle von Anekdoten, Spekulationen, brillantem Geplauder, unwahrscheinlichen Verknüpfungen und endlosen faszinierenden Gedankengängen, die irgendwo einen geistigen Schalter betätigten und weitere Gedankengänge auslösten ...
Benedetta behauptete, auch der Papst habe das WilliamsSyndrom. Angeblich sei dies das Geheimnis seiner brillanten Predigten. Benedetta wusste über jedermann schmutzige Geschichten zu erzählen.
»Wie schick du bist, Maya. Schön, dich endlich einmal in der Realität wiederzusehen.« Marcels Mantel war ein Flickenmuster
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