Heiliges Feuer
Muscheln! Niemand kann Muscheln fälschen.«
»Vielleicht sind es billige, nachgemachte Muscheln.«
Voll plötzlicher Besorgnis öffnete Therese abermals das Kästchen. Dann lächelte sie. »Nein, nein. Schau dir mal die Wachstumsringe an oder diese Sprenkelung. Viele Jahre des organischen Wachstums sind notwendig, bis eine echte Muschel entsteht. Kaurimuscheln sind zu komplex, um sie zu fälschen. Die sind echt. Eine ausgestorbene Spezies! Überaus kostbar! Es wird nie mehr welche geben. Die sind ein Vermögen wert! Die sind so viel wert, dass ich jetzt tun kann, was ich will.«
»Und was genau willst du damit anfangen?«
»Ich werde jetzt erwachsen! Die kleine Klitsche am Viktualienmarkt kann ich jetzt aufgeben. Ich mache einen richtigen Laden auf. In einem richtigen Gebäude, in einem Hochhaus! Für richtige Kunden, die mir richtiges Geld geben werden. Für eine Ladenbesitzerin bin ich noch sehr jung, aber jetzt, wo ich die Muscheln habe, kann ich es schaffen. Ich kann alte Leute für mich arbeiten lassen. Ich werde meinen eigenen Buchhalter und meinen eigenen Wirtschaftsanwalt beschäftigen. Ich fange neu an, ganz legal. Offen und ehrlich. Mit richtigen Geschäftsbüchern, ich werde sogar Steuern zahlen!«
»Also, das klingt wirklich toll.«
»Mein Traum wird wahr. Jetzt werde ich auch bei richtigen Modemachern Beachtung finden. Ich werde richtige Kollektionen von professionellen Designern kaufen. Kein Kinderkram mehr. Kinderkram, Kinderkram, Kinderkram, ach, ich bin das lebendige Leben ja so leid.«
»Hoffentlich hältst du dich in Zukunft von Brunos Freunden fern.«
»Ganz bestimmt«, sagte Therese. »Was man von der Politas auch halten mag ... aber sie verändert die Welt zum Besseren. Ja, wirklich! Brunos Gangster - die soll sich meinetwegen die Polizei schnappen. Das bringen die Medizin, das Geld und die Überwachung mit sich ... Es funktioniert. Die schlimmen Jungs sterben aus. Von Jahr zu Jahr werden es weniger. Die kriminelle Klasse ist im Aussterben begriffen. Diese Typen sind sehr alt, und sie waren lange Zeit stark, aber jetzt sterben sie aus wie eine ansteckende Krankheit. Das hat etwas Tragisches, aber ... aber, na ja, es ist eine große Errungenschaft.«
Maya seufzte erschöpft. »Vielleicht hätte ich dir nicht so viele Beruhigungspflaster verabreichen sollen.«
»Sag das nicht. Das stimmt nicht. Siehst du denn nicht, wie glücklich ich bin? Du solltest dich lieber mit mir freuen.« Sie schaute Maya ins Gesicht. »Wie kommt es, dass du dich so verändert hast, Maya? Weshalb bist du nicht mehr so munter wie damals in Munchen?«
»Deine Stimmung kippt andauernd, Schätzchen. Red lieber nicht so viel. Wir sollten uns ein wenig ausruhen. Ich bin sehr müde.«
Therese kuschelte sich in den Sitz. »Selbstverständlich bist du müde. Du warst so tapfer. Tut mir Leid, Maya ... Vielen Dank für alles.«
Lange Zeit schwiegen sie. Therese weinte noch ein wenig. Schließlich schlief sie ein.
In Schein der vorbeiziehenden Lichter des ländlichen Europas wirkte Thereses Gesicht sehr friedlich. »Du stehst jetzt auf der anderen Seite«, meinte Maya voller Zärtlichkeit. »Du bist jetzt eine richtige kleine Bourgeoise. Ich kann einfach nicht glauben, dass es so funktioniert. So mühelos. Ich habe zugelassen, dass sich die Welt so entwickelt. Das war meine Schuld, das ist genau die Welt, die ich mir gewünscht habe. Ich kann einfach nicht glauben, dass du so begierig darauf bist, in einer Welt zu leben, die ich keinen Moment länger hätte ertragen können. Ich muss mich außerhalb des Gesetzes stellen, um zu leben und zu atmen, und der Rückweg ist mir versperrt. Und die Witwe ist hinter mir her. Sie weiß Bescheid. Ich weiß es einfach. Sie würde mich auf der Stelle festnehmen, wenn sie nicht so sanftmütig und geduldig wäre. Kennst du die Witwe?«
Die schlafende Therese drückte das Kästchen fester an sich.
»Ich wünsche dir, dass du ihr nie begegnest.«
Die Überarbeitung des Palasts stellte sie vor erhebliche Probleme. Kompliziert wurde es vor allem durch den Umstand, dass irgendetwas darin lebte. Benedetta und ihre Freundinnen brauchten eine ganze Weile, um das verstörende Wesen aufzuspüren. Es handelte sich um Martins Hund. Plato trieb sich im Palast herum.
Martin hatte das organische Gehirn des Hundes mit seinem Erinnerungspalast vernetzt. Dieser medizinische Prozess wurde bei Menschen aus guten Gründen nicht gutgeheißen. Die neurale Aktivität war ein in hohem Maße nichtlineares
Weitere Kostenlose Bücher