Heiliges Feuer
leise, eine ferne Musik, die allmählich lauter wurde. Bislang hatte das Gerät immer tadellos funktioniert, daher war sie vorbereitet, als es eine Art musikalisches Räuspern ertönen ließ, worauf es sie unmittelbar ansprach. »[Hallo, Benutzerin Maya.]«
»Hallo?«, sagte sie.
»[Dies ist eine interaktive Nachricht von Ohrschmuck Enterprises in Basel. Wir haben das Übersetzungscollier entwickelt und hergestellt. Verstehen Sie uns? Bitte bestätigen Sie mit ›Ja, ich verstehe Sie‹ auf englisch, in ihrer Vorzugssprache.]«
»›Ja, ich verstehe Sie.‹«
Sie blickte sich im Abteil um. Obwohl sie laut ins Leere sprach, nahm niemand Anstoß an ihrem ungewöhnlichen Gebaren. Anscheinend nahm man an, sie benutze ein Netzgerät.
»[Benutzerin Maya, das Collier befindet sich seit zwei Wochen in Ihrem Besitz. Sie haben seine Funktionen bereits auf englisch, italienisch, tschechisch, deutsch und französisch kennengelernt. Wir hoffen, dass die Übersetzungen prompt und präzise erfolgten.]«
»Ja, das war sicherlich der Fall.«
»[Haben Sie die exquisite Ausführung des Colliers bemerkt? Es wäre ein Leichtes gewesen, eine billige Ausführung in Kupfer und Silizium zu wählen, wir aber ziehen den klassischen Chic echter Juwelen vor. Wir von Ohrschmuck sind stolz auf unsere traditionelle europäische Handwerkskunst, und dass sie unsere Shareware benutzen, weist Sie als Frau von gutem Geschmack aus. Jede beliebige Firma kann heutzutage Übersetzer für den Touristenbedarf herstellen. Wir von Ohrschmuck bieten Ihnen eine ganze Bibliothek moderner europäischer Sprachen an, einschließlich gesetzlich geschützter Wortschätze, welche die moderne Umgangssprache sowie Fachsprachen abdecken. Es ist nicht leicht, unser Niveau sprachlicher Dienstleistungen aufrecht zu erhalten.]«
»Das leuchtet mir ein.«
»[Sollte unser Sharewarecollier Ihren persönlichen Ansprüchen genügen, wäre es nur angemessen, wenn Sie unsere Mühe belohnen würden. Finden Sie das nicht auch, Maya?]«
»Was wollen Sie eigentlich von mir?«
»[Wenn Sie uns siebenhundert Mark überweisen, statten wir Ihren Übersetzer mit den neuesten Wortschatzupdates aus. Darüber hinaus werden Sie bei uns registriert, erhalten Unterstützung im Problemfall und können sich mit Fragen an uns wenden.]«
»Sollte ich jemals eine solche Summe besitzen, werde ich Ihnen das Geld bestimmt überweisen.«
»[Wir halten den Preis für angemessen, Benutzerin Maya. Wir verlassen uns darauf, dass Sie uns bezahlen werden. Unser Geschäft basiert auf gegenseitigem Vertrauen. Wir wissen, dass wir Ihnen vertrauen können. Schließlich vertrauen Sie unserem
Gerät das Trommelfell Ihres rechten Ohrs an, ein sehr zartes und intimes Organ. Wir glauben, dass gegenseitiger Respekt zu einer langen Bindung führen wird. Unsere Netzadresse ist überall auf der Welt erreichbar und nimmt auch Bargeld entgegen. Wir freuen uns darauf, in Kürze von Ihnen zu hören.]«
Um Mitternacht war sie wieder in Prag angelangt, bepackt mit ihrem Rucksack und einer Einkaufstüte, ein wenig schwindelig, erschöpft, mit Blasen an den Füßen und von Schmerzen geplagt. Prag aber sah wunderschön aus. So solide, so anorganisch, so gegenwärtig, so wundervoll alt. Die Bartolomejskastraße sah wundervoll aus. Das Haus sah wundervoll aus. Vor Emils Tür zögerte sie kurz, dann stieg sie die Treppe zu Frau Najadovas Wohnung hoch.
»Was gibt es?« Frau Najadova stutzte, musterte Maya von oben bis unten. »Was hat er Ihnen angetan?«
»Es gibt gewisse Tage im Monat, an denen eine Frau Zeit für sich selber braucht. Aber das versteht er nicht.«
»Ach, dieser schmutzige, gedankenlose Grobian. Das sieht ihm ähnlich. Kommen Sie rein. Ich sehe gerade fern.« Frau Najadova bot ihr einen Platz auf dem Sofa an. Sie holte Maya eine Decke und ein Heizkissen und machte ihr einen Frappe. Dann nahm sie in einem Schaukelstuhl Platz und beschäftigte sich mit ihrem Notebook, während der Fernseher auf tschechisch daherplapperte.
Frau Najadovas Wohnzimmer war vollgestopft mit Weidenkörben, Krügen, Flaschen, Treibholz, Vogeleiern, Nippes. Darunter eine blaue Glasvase mit einem Strauß Gewächshauslilien. Und ausgesprochen nostalgische Erinnerungsstücke an Herrn Najad, einen großen, stämmigen Burschen mit breitem Grinsen, der offenbar Skilaufen und Angeln gemocht hatte. Dem Schnitt seiner Sportkleidung nach zu schließen, war er entweder tot oder seit mindestens zwanzig Jahren abwesend.
Beim Betrachten der
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