Heiliges Feuer
Entgiftungsdetergentien und katalytischen Sauerstoffträger.«
»Ach so. Jedenfalls reicht die DNS aus, um deine Identität festzustellen. Und dich an den Sozialdienst auszuliefern. Sollte das jemals erforderlich sein.«
»Hör mal, Paul, du brauchst dir gar nicht erst die Mühe zu machen, meine Krankenakte ausfindig zu machen. Jetzt kann ich dir auch ebenso gut sagen, wer ich bin.«
Paul veranlasste den Moskito, ein Chromatogramm auszustoßen, und faltete das Papier sorgfältig zusammen. »Nein«, sagte er, »das ist nicht nötig. Ich halte es nicht einmal für ratsam. Ich will gar nicht wissen, wer du bist. Das geht mich nichts an. Ich erwarte etwas anderes von dir.«
»Und das wäre?«
Er sah ihr in die Augen. »Ich möchte, dass du mir beweist, dass du immer noch eine Künstlerin bist, obwohl du kein Mensch mehr bist.«
Stuttgart war eine große, laute Stadt. Groß, laut, stickig und grün. Eine Stadt des Keuchens, Grunzens, Schnaufens und des komplexen organischen Gurgelns. In Stuttgart schrien die Menschen einander an. Aus schließmuskelartigen Wandöffnungen quollen plötzlich Horden von Fußgängern hervor.
Die Hochhäuser waren weithin bekannt, doch ihr rhythmischer Atem ließ eher an ein beruhigendes Meer denn an Berge denken. Der Atem der Monstertürme klang rau und tuberkulös. Er wehte über die pelzigen Straßen hinweg und roch nach Dampf und Zitronen.
»Meine Familie war am Bau der Stadt beteiligt«, bemerkte Paul, während er einen Bogen um eine Pfütze machte, die wie Müsli aussah. »Meine Eltern waren Müllschürfer.«
»Waren?«
»Sie haben’s aufgegeben. Mit dem Müll lief es wie mit anderen Industrien zur Gewinnung von Rohstoffen auch. Die besten, ergiebigsten Vorkommen waren bald erschöpft. Heutzutage beschäftigen sich vor allem Einzelgänger damit, Kleinunternehmer, die es auf Methan abgesehen haben.«
»Ich verstehe.«
»Schade drum war’s nicht, meine Mutter hat ihren Schnitt gemacht. Ich bin ein privilegiertes Kind.« Paul lächelte. Er wirkte entspannt, froh darüber, wieder daheim zu sein.
»Sind deine Eltern Franzosen?«
»Ja. Ursprünglich stammen wir aus Avignon. Die halbe Einwohnerschaft von Stuttgart ist französisch.«
»Wie das?«
»Weil Paris zu einem Museum geworden ist.« Das Licht veränderte sich. Von einem Hochhaus schälte sich eine gewaltige geriffelte Membran ab und breitete sich über die Straße. Ein Schwarm weißer Kraniche zog darunter seine Kreise, dann landeten die vielen weißgefiederten Nachzügler auf der Straße. Die Vögel pickten so heftig auf den Gehsteig ein, dass sich einzelne Brocken lösten.
»Die besten Extrakte der Müllhalden«, sagte Paul, »wie Eisen, Aluminium, Kupfer und so weiter verloren rapide an Wert, als sich die modernen Materialien durchsetzten. Billiger Diamant übertrifft natürlich alles. Aber Zuckerglas, optisch leitende Kunststoffe, Fullerene und Aerogele ...« Er deutete auf die Stadtlandschaft ringsumher. Ein kleiner, gewandter Mann mit einem ganz persönlichen Interesse an vierhundertstöckigen Gebäuden. »Die kohlenstoffbasierten Produkte haben die Metallkonstruktionen vom Markt verdrängt. Die Stuttgarter sind progressiv, sie verachten Platitüden.«
»Die Stadt hat große Ähnlichkeit mit Indianapolis.«
»Keineswegs! Überhaupt nicht!«, protestierte Paul. »Indianapolis ist aus einem politischen Willensakt heraus entstanden, die Missgeburt revanchistischer Asiaten. Stuttgart ist ernsthafte Architektur! Stuttgart bedeutet etwas! Es ist die einzige wirklich moderne Stadt in Europa! Die einzige Stadt, deren Erbauer ernsthaft an die Zukunft glaubten - anstatt immer nur die Vergangenheit zu recyclen.«
»Ich möchte nicht, dass die Zukunft so aussieht.«
»Das wird sie auch nicht. Ebensowenig wie die Welt vor einem Jahrhundert aussah wie New York. Es reichte aus, dass die Welt eine Zeit lang wie New York City aussehen wollte. Stuttgart ist auch so eine urbane Attraktion. Die einzige Stadt der Welt, bei deren Entstehung es der modernen Gesellschaft gestattet war, sich architektonisch authentisch auszudrücken.«
»Mir fällt auf, dass du in der Vergangenheit sprichst.«
»Es wird nicht viele weitere Stuttgarts mehr geben. Der gerontokratischen Gesellschaft mangelt es an der nötigen Willenskraft und Energie, um eine Innovation in so großem Maßstab zu erschaffen. Es sei denn, irgendeine Großstadt würde bei einer Katastrophe zerstört und die Überlebenden hätten gar keine andere Wahl.« Paul hob die
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