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Heiliges Feuer

Heiliges Feuer

Titel: Heiliges Feuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bruce Sterling
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bildet sich unter einem ein weiches Mooslager. Es ist ständig warm und feucht. Sehr sinnlich, sehr hautfreundlich, extrem zivilisiert. Hier sind die Mikroben alle domestiziert. Das Leben wird recycelt, aber die Verwesung ist besiegt. Die Verwesung hat sich verflüchtigt wie ein böser Traum.«
    »Hmmm.« Sie musterte die Fassade, eine zottelige, feuchte Kaskade verschiedenfarbiger Moose. »Wie du es ausdrückst, klingt es gar nicht so schlecht.«
    Als ein Lastwagen vorbeifuhr, der die Umgebung in dichten gelben Nebel hüllte, zogen sie sich in einen Eingang zurück.
    »Die Erbauer waren Visionäre. Eine Stadt, die den Bewohnern keinerlei biologische Zwänge auferlegt. Die ihnen eine Heimstatt bietet, Nahrung, Anregung und natürlich dauerhaften Schutz vor den Schrecken der Pest. Mag sein, man hat das Ergebnis so nicht gewollt, aber die Stadt selbst ist so großzügig, dass sie die Gesetze der Ökonomie außer Kraft setzt. Es erfordert schon einen besonders uneigennützigen Charakter, dauerhaft hier zu leben. Rebellen, Träumer, Philosophen ... Auch bei den geistig Minderbemittelten ist dieses Viertel sehr beliebt ... Im Laufe der Jahre hat es immer mehr Mystiker angezogen.«
    »Büßer?«
    »Ja, katholische Extremisten jeglicher Couleur, aber auch viele Sektierer. Ekstatiker, Charismatiker. Mohammedaner. Bedauerlicherweise sind die Ekstatiker und Charismatiker erbitterte Rivalen und hassen einander bis aufs Blut.«
    »Ist es nicht immer so?« Sie machten drei nackten Frauen Platz, die auf Fahrrädern vorbeisausten, die angeschwollenen, steinharten Waden unermüdlich pumpend.
    »Fanatiker hassen und fürchten ihre eigenen Abtrünnigen stets mehr, als sie die Bourgeoisie verachten. Daran erkennt man sie ... Dies ist ihre große Schwäche. In der Vergangenheit gab es Gewaltausbrüche in Stuttgart, Straßenkämpfe, sogar Morde ... Hast du schon mal Entheogene probiert, Maya?«
    »Nein, noch nie.«
    »Ich schon. Und zwar hier.«
    Sie blickte sich um. Zottelige Wände, frisches Grün, heiße, neblige Beleuchtung, ein urbanes Universum voller Krabbeltiere. »Wie war es?«
    »Ich habe Gott geschaut. Gott war sehr warmherzig, liebevoll und weise. Ich empfand eine überwältigende Dankbarkeit und Liebe zu Ihm. Es war eine klare, ausgesprochen platonische Realität, völlig authentisch, das kosmische Licht. Es war die Realität, wie Gott sie sieht, nicht die fragmentarische, schwankende Rationalität des menschlichen Geistes. Es war eine elementare mystische Erkenntnis, über jeden Zweifel erhaben. Ich befand mich in der lebendigen Gegenwart des Schöpfers.«
    »Warum hast du das getan? Waren deine Eltern religiös?«
    »Nein, überhaupt nicht. Ich habe es getan, weil ich erlebt habe, wie andere Menschen von Religion verzehrt wurden. Ich wollte wissen, ob ich stark genug wäre, mich dagegen zu wehren.«
    »Und?«
    »Ja, ich war stark genug.« Pauls Blick schweifte in die Ferne. »Ah, dort drüben ist eine Rohrpost. Ich habe Vorlesung. Tut mir Leid, aber ich muss dich jetzt allein lassen.«
    »Wirklich? O je.«
    Paul näherte sich der Rohrpost und tippte eine Adresse ein. Eine Klapptür öffnete sich. Er warf den Rucksack in die gepolsterte Kapsel. »Ich lasse dich allein, weil ich muss«, sagte er geduldig, »aber du befindest dich im schönen Stuttgart. Ich hoffe, du wirst deinen Aufenthalt gut nutzen.« Die Kapsel verschwand. Sogleich nahm eine andere Kapsel ihren Platz ein. Paul drückte die Wiederholtaste, kroch behende ins gepolsterte Innere und legte die Arme um die angezogenen Knie. »Wir sehen uns in Prag wieder, Maya.«
    »Au revoir, Paul.« Sie winkte ihm zum Abschied, und die Tür schloss sich mit einem pneumatischen Plopp.
     
    Maya verbrachte drei seltsame Tage in Stuttgart und trieb sich auf den wabenartigen Plätzen und in den besonders freizügigen Apothekenmalls herum. Im Nachtzug nach Prag ließ sie sich erschöpft in den Sitzsack sinken und genoss die Stille und das Alleinsein. Es war ein angenehmes Gefühl, sich wieder in der vertrauten Umgebung eines fahrenden Zuges zu befinden. Sie vibrierte von Hormonen und dem Kulturschock und hatte längere Zeit nicht mehr richtig gegessen. Mit jeder Stunde drang sie in neue Erfahrungsbereiche vor, in fremdartige, weite somatische Räume, die sich mit Begriffen wie ›Hunger‹ und ›Erschöpfung‹ nur unvollständig charakterisieren ließen.
    Der Schlaf lockte. Doch dann begann auf einmal der Übersetzer zu tönen, der noch immer in ihrem Ohr steckte. Zunächst ganz

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