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Heiliges Feuer

Heiliges Feuer

Titel: Heiliges Feuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bruce Sterling
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Schultern. »Keine angenehmen Aussichten! Es mag einige Fanatiker geben, die glauben, der Holocaust sei ein angemessener Preis für den Wandel, aber ich habe den Holocaust studiert, und der Holocaust ist abscheulich. Der Wandel tritt unausweichlich ein. Das Überleben hat eine Menge für sich. Wer lang genug lebt, dem bricht die Realität unter den Füßen weg.« Er stockte, dachte nach. »Prag mag ich sehr gern. Die Stadt hat der Welt wahrscheinlich ebenso viel zu sagen wie Stuttgart. Prag hat seine eigene Epoche überlebt und sich in einen wundervollen Freak, einen reizvollen Atavismus verwandelt. Prag hat eine zweite Chance bekommen. Jetzt ist Prag die Puppe, worin die Larvenform der Posthumanität beheimatet ist.«
    Sie gingen weiter. Der Himmel über Stuttgart war voller Lufttransportmittel, die sich wie Schmetterlingszungen von einem Hochhaus ausgehend entfalteten, an einem fernen Gebäude festmachten und sich dort anschließend wieder zusammenrollten. Im flexiblen Innern dieser Verbindungselemente befanden sich Gleitkapseln. Sie waren unheimlich effizient und erinnerten an geschmeidige Fußgängerboas.
    Paul geleitete Maya eine lange Treppe hinunter und durch einen beeindruckenden Gewölbebogen mit mehreren dicken Perlenvorhängen. Der Himmel verschwand. Es wurde wärmer. Sie gelangten unter ein moosbewachsenes Dach mit Höckern, die aus Stoff zu bestehen schienen, aber so fest wie Beton waren. Die Wände waren schwammig und unregelmäßig, an der Decke führten lange, sonnenhelle Streifen optisch leitender Fasern entlang. Es war schwül wie in einem steinernen Gewächshaus. Es roch nach Vanille und Bananen. »Dieses Stadtviertel mag ich am liebsten«, sagte Paul. »Hier habe ich jahrelang gewohnt, bevor ich den Lehrauftrag bekommen habe. Das Viertel wurde von Theoretikern des essbaren Stadtbilds geplant und verwirklicht.«
    »Von was für Theoretikern?«
    »Die Wände hier bestehen aus Manschettenpilz. Man kann die Stadt verzehren. Die Wände sind sehr nahrhaft.« Ihr schien es wenig ratsam, die Pilzwände zu essen. Die Einheimischen hatten mit irgendeinem Herbizid Graffiti eingeätzt. Fleckige, gelbliche Buchstaben. UNTER DEM PFLASTER LIEGT DER STRAND. Geschwungene arabische Schriftzeichen. Ein Kilroy-Gesicht mit Lockenschopf.
    Seite an Seite schlenderten sie durch das hell erleuchtete vielstöckige Gebäude. Auf den offenen Etagen gab es durchnummerierte Mulden. Darin lagen Menschen unter dem blendend hellen künstlichen Sonnenlicht. Sie trugen Brillen und waren von Kopf bis Fuß mit einem graugrünen organischen Überzug bedeckt.
    »Was ist das hier? Ein Leichenschauhaus?«
    »Das ist ein öffentliches Bad.«
    »Wo ist das Wasser?«
    »Hier wird nicht in Wasser gebadet, sondern man lässt sich die Haut abschälen. Man taucht in Gelatine ein, dann legt man sich unter die Lampen. Man wird mit Pilzsporen bestäubt, die sich in der Haut verwurzeln. Wenn der Schimmel zu wachsen aufhört, wird man mit mechanischen Schabern bearbeitet. Der Schimmel schält sich ab. Der ganze Schmutz und die Hautflora werden dabei entfernt. Es ist sehr belebend.«
    »Die Leute baden in lebenden Schimmelpilzen?«
    »Ja, das ist ein mühevoller Prozess. Um die Zeit im Tank zu überbrücken, tragen die Leute Cyberbrillen, wie du siehst. Das ist eine kleine Annehmlichkeit, zumal für die Leute, die im essbaren Viertel ein schweres Leben führen. Der Service ist kostenlos. Wenn man fertig ist, wird man mit der hiesigen Mischung körpereigener Mikroben bepinselt.«
    »Ja, aber es ist Schimmel.«
    »Eine völlig harmlose, nützliche Schimmelart. Völlig ungefährlich.« Er stockte. »Ich hoffe, du findest öffentliche Nacktheit nicht schockierend. In Stuttgart ist das ganz normal.«
    »Natürlich bin ich nicht geschockt, aber es ist Schimmel!«
    »Wie provinziell«, meinte Paul, angestrengt lächelnd. Offenbar war er gekränkt. »Das Ziel der Planung war es, die menschenfreundlichste Stadt in ganz Europa zu errichten. Nicht, dass die Einwohner besonders umgänglich wären - das sind Menschen wie in anderen Großstädten auch. Aber die Stadt als solche ist besonders benutzerfreundlich.«
    Paul deutete zur anderen Straßenseite, wo sich mit tiefem Summen ein Mückenschwarm sammelte. »Solltest du das Glück haben, in dieser exklusiven Herberge dort drüben ein Zimmer zu bekommen - nun, sie ist durch und durch organisch. Man kann die Mauern essen. Man kann seine Ausscheidungen hinterlassen, wo man will. Legt man sich zum Schlafen nieder,

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