Heiliges Feuer
Fotos verspürte Maya jähes Mitgefühl mit all den Frauen, die ein Menschenleben lang verheiratet gewesen waren und ihren Mann geliebt und überlebt hatten. Mit all den echten und virtuellen Witwen und denen, die nach dem Witwenstand strebten oder denen er auferlegt worden war. Man konnte über die Sexualität hinauswachsen, aber ganz darüber hinwegkommen, das konnte man nicht - so wenig wie über die eigene Kindheit.
Mayas goldener Vogel meldete sich zu Wort. Neuerdings sagte er die Stunden an, mit leisen, aber deutlich vernehmbaren Kuckucksrufen, offenbar ein taktvoller Hinweis auf die ohne Bezahlung verstreichende Zeit. Sie steckte sich den Vogel ins Ohr. Sogleich übersetzte er das Fernsehergebrabbel.
»[Eigentlich sind wir eine Spezies des ontologischen Übergangs]«, sagte der Fernseher. Es war Aquinas, der Hund mit der deutschen Talkshow. Der Hund war tschechisch synchronisiert. »[Was ich als meine Intelligenz bezeichne, hat seinen Ursprung in drei Welten. In meiner angeborenen hündischen Erkenntnisfähigkeit. In dem künstlichen intelligenten Netzwerk außerhalb meines Schädels. Und in den internen Schaltungen, die in den Zwischenräumen meines Hundehirns gewachsen sind, programmiert mit menschlicher Sprache. Wo innerhalb dieser dreifachen Intelligenz ist nun meine Identität angesiedelt? Bin ich das Anhängsel eines Computers oder ein Hund mit einem cybernetischen Bewusstsein? Und welcher Anteil dessen, was ich als Denken bezeichne, beruht lediglich auf meiner flüssigen Ausdrucksweise?]«
»[Ich nehme an, dieses Problem stellt sich jedem Talkshowmoderator]«, pflichtete der Gast ihm bei.
»[Ich verfüge über bemerkenswerte kognitive Fähigkeiten. Beispielsweise vermag ich mathematische Probleme beinahe jeden Schwierigkeitsgrades zu lösen. Gleichwohl versteht mein Hundehirn so gut wie nichts von Zahlen. Ich löse die Probleme, ohne sie zu verstehen.]«
»[Das Verständnis der Mathematik stellt eines der größten intellektuellen Vergnügen dar. Ich bedaure, dass Ihnen diese geistige Erfahrung abgeht, Aquinas.]«
Der Hund nickte wissend. Ungeachtet seiner Kleidung war es eigenartig, einen Hund im Verlauf einer Unterhaltung nicken zu sehen. »[Diese Einschätzung bedeutet mir umso mehr, als sie von Ihnen kommt, Professor Harald. Sie sind ein Mann mit großen wissenschaftlichen Meriten.]«
»[Wir haben mehr gemeinsam, als der Laie meinen mag]«, erklärte der Professor huldvoll. »[Schließlich besitzt jedes Säugetierhirn, das menschliche Gehirn eingeschlossen, zahlreiche funktionale Bereiche mit unterschiedlichen kognitiven Fähigkeiten. Ich muss Ihnen etwas gestehen, Aquinas. Die moderne Mathematik ist ohne Rechnerunterstützung undenkbar. Ich habe mir einen Simulator implantieren lassen]« - der Gast tippte sich taktvoll an die gefurchte Stirn - »[und bin doch nicht in der Lage, die Lösungen zu fühlen, obwohl ich sie laut ausspreche und intuitiv spüre, dass sie richtig sind.]«
»[Beschäftigen Sie sich manchmal im Schlaf mit Mathematik, Professor?]«
»[Ständig. Auf diese Weise komme ich zu meinen besten Ergebnissen.]«
»[Bei mir ist es auch so. Im Schlaf - vielleicht treffen sich die Säugetiere in diesem Punkt.]«
Der Professor schüttelte dem Hund bedächtig die elegante Greifpfote. Das Publikum spendete höflichen Beifall.
4
Maya erwachte gegen fünf Uhr früh. Ihre Fingernägel juckten, als passten sie nicht mehr auf die Finger. Die Hormone in ihrem Blut veranlassten die Nägel, wie tropischer Bambus zu sprießen. Die Deckhaut wuchs unregelmäßig, das Keratin war eigenartig dünn. Die Nägel kamen ihr künstlich vor.
Sie erhob sich von Frau Najadovas Sofa, schnappte sich den Rucksack, schlüpfte lautlos aus der Tür, stieg die Treppe hinunter und betrat Emils Atelier. Emil war allein und schlief tief und fest. Am liebsten hätte sie sich zu ihm gelegt und weitergeschlafen, widerstand aber der Versuchung. Sie fühlte sich nicht mehr wohl in der eigenen Haut. Da hätte sie die Nähe zu ihm kaum ertragen.
Sie suchte ihre rote Jacke und fand sie. Sie schenkte sich Wasser ein, dann wühlte sie in ihrer Schmerzmittelsammlung. Sie entschied sich, keine Pillen mehr zu nehmen. Vielleicht würde sie sie bald dringend brauchen, und die Apotheker waren nicht überall so verständnisvoll wie in Stuttgart.
Emil erwachte und setzte sich im Bett auf. Er musterte sie verständnislos, aber höflich, dann zog er sich die Decke übers Gesicht und schlief weiter. Maya packte methodisch
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