Heimat Mars: Roman (German Edition)
ich über diese Gebiete wusste, hatte ich in Seminaren oder in populären LitVid-Sendungen aufgeschnappt. Die Jugendprogramme der Erde wurden von Helden beherrscht, deren körperliche und geistige Fähigkeiten weit über das ›Normale‹ hinausgingen. Aber eigentlich hatte ich keine Ahnung von Quantenlogik oder QL-Denkern.
Eine letzte Frage verfolgte mich durch den Rest des Tages, beschäftigte mich beim Abendessen mit meinen Eltern und meinem Bruder, beim geselligen Beisammensein der BG und dem darauf folgenden Tanztee und später im Bett, in dem ich keinen Schlaf finden konnte: Warum hatte Charles mir nichts davon erzählt?
Er hatte mir also doch nicht alles gegeben.
Früh am nächsten Morgen sprachen meine Mutter und ich meinen Ausbildungsplan für die nächsten Jahre durch. Ich hatte keine Lust dazu, aber es musste sein. Also machte ich ein so tapferes und fröhliches Gesicht, wie es mir irgend möglich war. Vater und Stan waren zu einer Tagung der BGs gefahren, in der es um die Kontrolle von Guthaben außerhalb des Mars ging. Unser Familienzweig hatte in der BG Majumdar von jeher die Aufgabe übernommen, die Finanzgeschäfte der Familie innerhalb des Dreierbundes zu führen, und auch Stan hatte diese Laufbahn eingeschlagen. Ich hatte immer noch Interesse an Betriebsführung und an politischer Theorie, jetzt sogar noch mehr als früher, da ich ein paar Monate lang keine Kurse mehr gehabt hatte. Die Protestaktion an der Mars-Universität Sinai und meine Zeit mit Charles hatten ihr Teil dazu beigetragen.
Mutter war eine geduldige Frau – eine allzu geduldige, wie ich fand. Aber jetzt war ich ihr dankbar dafür, dass sie mich so gern hatte. Vom politischen Fortschritt hatte sie noch nie was gehalten. Meine Großmutter hatte den Mond aus Protest darüber, dass er seine Verfassung geändert hatte, verlassen. Ihre Tochter hatte den ausgeprägten Individualismus, der so typisch für die Bewohner des Mondes war, bewahrt.
Meine Mutter und ich wussten beide, was ich der Familie schuldig war: Spätestens in zwei Jahren musste ich entweder eine Arbeit innerhalb der BG annehmen oder, falls ich mich an einen Mann band, die BG wechseln und in der neuen BG arbeiten. Das Studium der Politik fand damals niemand besonders nützlich.
Trotzdem würde meine Mutter mir nichts in den Weg legen, wenn ich wirklich Staatstheorie und Regierungsführung studieren wollte … allerdings würde sie zunächst leise und höflich ihre Bedenken vorbringen.
Sie brauchte fünf Minuten, um ihre Bedenken loszuwerden. Ich saß gleichmütig da und ließ sie ausreden. Sie sprach davon, wie schwierig Politik in Wirtschaftsgemeinschaften sei, die auf dem Prinzip der Bindenden Gruppen basierten. Sie sprach davon, dass man die beste und wirkungsvollste Arbeit in der eigenen BG leisten könne. Es sei denn, man repräsentierte die BG im Rat, und auch das war nicht Privileg, sondern auferlegte Pflicht.
Sie sagte, was sie zu sagen hatte. Es war eine zurückhaltende, aber von Herzen kommende Variante des Protestschreis, den meine Großmutter auf dem Mond losgelassen hatte: »Schluss mit der Politik!«, und ich gab ihr zur Antwort: »Politik ist das einzige, was mich wirklich interessiert, Mutter. Jemand muss sich damit befassen. Die BGs müssen miteinander und mit dem Dreierbund zusammenarbeiten. Das sagt einem doch die Vernunft.«
Sie neigte den Kopf zur Seite und sah mich mit einem Ausdruck an, den Vater ihren ›Rätselblick‹ nannte. Ich hatte diesen Blick schon oft bei ihr gesehen, ohne ihn richtig deuten zu können. Es war ein liebevoller, mitleidiger, geduldig abwartender Blick, würde ich heute, nach so vielen Jahrzehnten des Nachsinnens, sagen, aber das trifft es auch nicht ganz. Vielleicht bedeutete es damals, bei unserem Gespräch: »Ja, und die Politik ist der drittälteste Berufszweig der Welt, aber ich möchte nicht, dass meine Tochter sich mit so etwas abgibt.«
»Und du willst es nicht noch einmal überdenken?«
»Nein, ich glaube nicht.«
»Dann müssen wir Nägel mit Köpfen machen.«
Wir saßen im Esszimmer und studierten eifrig Schulprospekte, die mit sorgfältig gestalteten Bildern, Texten, Symbolen und Ankündigungen des jeweiligen Studienplans über den Bildschirm flimmerten und uns Lust auf mehr machen wollten. Mutter seufzte und schüttelte den Kopf. »Das sieht alles nicht gerade verlockend aus«, stellte sie fest. »Alles Zeug für Anfänger.«
»Einiges scheint ganz interessant zu sein.«
»Du sagst, dass es dir
Weitere Kostenlose Bücher