Heimat Mars: Roman (German Edition)
gleich für mehrere Stunden volle Erdschwere haben. Der Countdown hatte die Null erreicht. Wir brüllten alle acht gleichzeitig los, das Schiff antwortete mit einem dumpfen Schlag. Wir setzten unsere Füße auf den Boden der Lounge. Orianna, die sich in der Nähe ihrer Eltern aufhielt, schien fast in Ekstase zu sein. Sie erinnerte mich an Berninis heilige Theresa, durchbohrt von einem Speer der Erleuchtung.
Die Fusionsflamme glitt wie ein pompöser Brautschleier hinter uns her. Im Zentrum war sie strahlend blau, an ihren Rändern aufgrund des Abriebs und der Ionisierung von Motor- und Düsenauskleidungen orangefarben. Erbarmungslos brachte sie uns auf fast das Dreifache unseres normalen Marsgewichtes – das bedeutete ein volles Ge, volle Erdenschwere.
Einige wenige, darunter auch Oriannas Eltern, kletterten nach vorn und machten im Trainingsraum tapfer ihre Gymnastikübungen. Sie alberten herum und beschimpften uns übrige als Schlappschwänze.
Ich wählte den Mittelweg und krabbelte eine Stunde lang in unserem Zylinder herum. Meine Bichemie auf Zeit machte die volle Erdenschwere erträglich, aber nicht angenehm. Während der Reisevorbereitungen hatte ich gelesen, dass es auf der Erde noch eine ganze Woche dauern konnte, bis ein mit Bichemie auf Zeit behandelter Mensch mit dem erdrückenden Gewicht klarkam. Orianna hatte sich zu mir gesellt. Auch sie war nur ›auf Zeit‹ gerüstet und arbeitete daran, ihre Erdenstärke wieder aufzubauen.
Während wir in unserem Zylinder vom Aussichtsdeck bis zum Gang bei der vorderen Steuerung krabbelten, erzählte mir Orianna von den Kleidermoden auf der Erde. »Ich hinke natürlich zwei Jahre hinterher«, sagte sie. »Aber mir gefällt der Gedanke, dass ich trotzdem noch auf dem laufenden bin. Dank der Vids.«
»Und was trägt man jetzt auf der Erde?«
»Formelles, Rüschen, Spitzen, Grüntöne. Masken sind dieses Jahr nicht mehr aktuell. Bis auf die Schwebemasken, das sind projizierte Masken mit persönlichen Symbolen. Musterprojektionen will niemand mehr, obwohl ich sie mochte. Man konnte so gut wie gar nichts am Leib haben und trotzdem anständig aussehen.«
»Ich kann meine Garderobe auf den neuesten Stand bringen. Ich hab genügend unverarbeitete Stoffe mitgebracht.«
Orianna zog eine Grimasse. »In diesem Jahr sind Nano-Schnitte nicht angesagt, außer bei ganz bestimmten Anlässen. Am besten ist altes Tuch. Lumpen sind wunderbar. Wir werden die Recycling-Läden durchstöbern. Der Fetzen- und Fähnchen-Look ist hochaktuell. Imitiertes Nano ist ganz und gar unmöglich.«
» Muss ich denn unbedingt mit der Mode gehen?«
»Absolut nicht. Auch das ist Mode, die Mode einfach zu ignorieren. Wenn ich zu Hause bin, verwandle ich mich alle paar Monate von einer modisch völlig Ausgeflippten in eine Sklavin der Mode.«
»Die Erdenbürger erwarten doch von einem roten Karnickel bestimmt, dass es ganz retro ist, oder?«
Orianna lächelte freundlich-mitleidig. »Wenn du so redest, bist du schon geliefert. Hör mir einfach zu, dann liegst du im Trend.«
Als wir atemlos an dem Gang angekommen waren, der um den Bugträger herumführte, ruhten wir uns für einen Augenblick aus.
»Dann korrigiere mich«, forderte ich und schnappte nach Luft.
»Auf dem Mars sagt ihr beispielsweise immer noch › wahrhaftig ‹ oder › merkwürdig ‹. Das ist total überholt, Mitte einundzwanzigstes Jahrhundert. Klingt für Erdenbürger wie Chaucer. Wenn du’s nicht gleich mehrsprachig versuchst – und das lässt du sowieso besser, wenn deine Fähigkeiten nicht erweitert sind – dann sprichst du am besten nur das Englisch des frühen zweiundzwanzigsten Jahrhunderts. Das versteht jeder. Es sei denn, du hängst an Französisch, Deutsch oder Holländisch. Alles, was um die zwanzig Jahre alt ist, wird als Standard akzeptiert. Die Chinesen sprechen etwa acht verschiedene Dialekte von Europidgin, aber zu Hause fallen sie in zwanzig verschiedene Putonghua- Dialekte. Die Russen …«
»Ich werde bei Englisch bleiben.«
»Da gehst du immer noch auf Nummer Sicher.«
Die Fusionsantriebe wurden abgeschaltet, die Schwerelosigkeit stellte sich wieder ein. Es war an der Zeit, die Zylinder, unsere Wohneinheiten, vom Rumpf abzutrennen und mit der Rotation zu beginnen. Die Tuamoto drehte ihre langen Ausleger zwischen zentralem Rumpf und Außenbordzylindern behutsam herum. Die Auslegeträger waren an einem Rotor am Rumpf befestigt, und die Zylinder nutzten ihre eigenen kleinen Methantriebwerke, um die
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