Heimat Mars: Roman (German Edition)
zirkulieren.«
»Außerhalb der Erde sind Simulationen nicht besonders gefragt«, stellte ich fest.
Orianna tat das mit einem Achselzucken ab. »Da ist eine Simulation dabei, die dir bestimmt gefällt. Geht schrittweise vor. Führt dir alle kulturellen Unterschiede zwischen uns beiden vor Augen. Spielt auf der Erde von heute, ist aber keine pädagogische Simulation. Fantasy und sehr romantisch. Und da du Alice nutzen kannst … Alice könnte unsere Simulationen wunderbar projizieren, viel besser als Koms … Mit Alice könnten wir ganz tief eintauchen.«
»Ich weiß nicht, ob sie damit einverstanden wäre.«
»Ich hab noch nie einen Denker gesehen, der nicht wild darauf gewesen wäre, mehr Informationen über die menschliche Natur zu sammeln. Außerdem ist heute Jillstag. Das müssen wir doch feiern. Und Alice braucht doch auch ein bisschen Entspannung.«
Jill war die erste Denkerin der Erde gewesen, die – am 30. Dezember 2047 – Selbst-Bewusstsein an den Tag gelegt hatte. Sie hatte als Modell für die nächsten Denker-Generationen gedient und war somit tatsächlich eine ganz direkte Ur-Mutter von Alice. Jill war auf der Erde immer noch im Einsatz. Falls die Zeit es erlaubte, wollte Alice sie während unseres Aufenthalts auf der Erde in ihrem Breitbandnetz besuchen.
In meiner Kabine duschten wir nacheinander, trockneten uns ab und setzten uns schließlich. »Du bist auf Simulationen ganz versessen«, sagte ich. »Und was ist mit der Wirklichkeit?«
»Wenn ich erst mal achtzehn bin«, antwortete Orianna, »dann wird die Wirklichkeit mir was bedeuten. Wenn ich erst mal selbständig bin und meine Eltern nicht mehr die Verantwortung für mich tragen, kann ich Risiken eingehen und gefährlich leben. Bis dahin bin ich nur ein Kotelett.«
»Kotelett?«
»Scheibchen Fleisch von der elterlichen Lende. Mit den Simulationen bereite ich mich auf den Rest meines Lebens vor.«
»Auch mit Fantasy-Simulationen?«
Sie lächelte. »Na ja … Man soll’s ja auch nicht übertreiben. Die machen einfach Spaß.«
Ich lehnte ihr Angebot höflich ab, deutete allerdings an, wir könnten die Simulation später vielleicht nachholen.
Die tägliche Routine im Raum wirkte hypnotisch. Nach vier oder fünf Stunden Schlaf (mit jedem Monat kam man mit weniger aus) wachte ich stets bei angenehmer Musik auf. Eine Projektion zeigte den Tagesplan des Raumschiffs und die Speisekarte. So konnte ich mir jeden Morgen gleich Stunden- und Speiseplan zusammenstellen. Ich machte Gymnastik, frühstückte, verbrachte einige Stunden mit Orianna oder Alice oder setzte mich in die Hauptlounge und unterhielt mich mit anderen Passagieren. Die Gespräche im Raumschiff plätscherten vor sich hin, selten gaben sie Anregungen oder führten zu Kontroversen. Vor dem Mittagessen machte ich nochmals Gymnastik, steigerte mein Übungspensum, und danach aß ich gemeinsam mit Orianna und ihren Eltern.
Alle zwei, drei Tage trafen Allen und ich uns mit Bithras. Langsam nahm sein Programm für die Erde Gestalt an. Die Nachmittage waren intensiven Studien vorbehalten. Bithras gab uns LitVids und Unterlagen, die wir durcharbeiten mussten, manche gehörten der BG Majumdar. Ich achtete darauf, in Gesprächen mit Orianna oder anderen nichts von diesen Interna zu erwähnen.
Das Abendessen nahm ich gewöhnlich mit Allen, Bithras und einigen Leuten ein, die Bithras von der Erde her kannte. Meistens sah ich mir danach in meiner Kabine LitVids an, da ich nach Informationen aus der Außenwelt gierte. Anschließend machte ich noch ein paar gymnastische Übungen und traf mich mit Orianna oder Allen zu einem späten Imbiss.
Es dauerte nicht lange, bis ich in manchen Behauptungen der Erdenbürger an Bord Schwachstellen entdeckte. Insbesondere, wenn es um allgemeine Annahmen ging, die die Zukunft der Erde oder die Pläne von GOWA und GASH betrafen. Ich bewegte mich jetzt in der Nähe eines Machtzentrums, und was ich erfuhr, beunruhigte und beeindruckte mich gleichermaßen.
Ein Gespräch ist mir deshalb im Gedächtnis geblieben, weil es so ungewöhnlich offen war. Es fand gegen Ende unseres fünften Reisemonats statt. Nachdem wir drei eine Stunde lang die Wirtschaft der Erde und ihr Verhältnis zum Dreierbund durchgehechelt hatten – ein Verhältnis, das wir mit der Beziehung einer Riesendogge zu ihrem winzigen, aber wachsenden Schwänzchen verglichen – begab ich mich zum Abendessen. Einige Minuten nach meiner Bestellung fingerte der Roboter des Speisesaals Tabletts aus dem
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