Heimat Mensch - Was uns alle verbindet
und Werte geht es um profane wirtschaftliche und politische Interessen, um Macht, Geld und lukrative Posten. Die Mehrzahl der Menschen lebt heute in Vielvölkerstaaten. Und da ist es zur Durchsetzung der Interessen einer Gruppe und im Kampf um Anerkennung oft sehr effizient, die kulturelle Karte zu spielen, wie im Kapitel »Wir hier und die dort« skizziert wurde.
Kulturelle Vielfalt in einer Gesellschaft ist nicht automatisch ein Konfliktfaktor, ebenso wenig wie bestehende Stereotypen über fremde Gruppen. Der zentrale Konfliktmotor ist strukturell fehlende Anerkennung, die sich in dem Gefühl äußert: »Wir haben keine Stimme.« Scharf gemacht werden die Unsicherheit im Umgang an kulturellen Rändern und der fast universale Ethnozentrismus durch den strategischen Einsatz der kulturellen Unterschiede. Kollektive Identität ist die global eingesetzte Waffe im Kampf um Anerkennung.
Frieden machen
Einerseits haben Menschen ein grundsätzliches Aggressionspotenzial. Sie können sehr gewalttätig sein; Konflikt, Gewalt und Krieg interessieren als Themen jeden. Gleichzeitig sind Gewaltausbrüche angesichts der Lebensumstände auf diesem Planeten recht selten. Wie hängt das eine mit dem anderen zusammen? Wir wissen es nicht, aber auf dem Weg zu einer Antwort lohnt ein Blick auf exotische Kulturen. Wenn wir auch nur eine Gesellschaft finden, die dauerhaft keinen Krieg führt, wäre das ein wichtiger Ansatzpunkt. Eine solche Kultur beweist, dass eine friedliche Lebensweise möglich ist. Und das wurde und wird immer wieder bezweifelt. Ebenso aufschlussreich wäre der Fund einer einzigen Gesellschaft, in der männliche Gewalt nicht oder kaum vorkommt oder in der es keine Vergewaltigungen gibt. Solche Nachweise würden zeigen, dass es sich bei Gewalt und Krieg nicht um Naturgesetze handelt oder um strukturelle Notwendigkeiten des Lebens in einer Gesellschaft.
Die Semai leben in Malaysia in Südostasien, nicht weit entfernt von den gigantischen Wolkenkratzern der Hauptstadt Kuala Lumpur. Einige von ihnen arbeiten sogar in der hypermodernen Computerstadt Cyberjaya . Der traditionelle Lebensraum der heute um die 20000 Menschen zählenden Gruppe liegt aber im ländlichen Gebiet mitten auf der malaiischen Halbinsel. Die Semai wirtschaften traditionell als Sammler und Jäger. Sie leben im Wald und sie leben vom Wald. Sie nutzen eine enorme Bandbreite von Bäumen und anderen Pflanzen, sammeln Früchte und jagen kleinere Tiere. Außerdem bauen sie Reis und Maniok an und verkaufen Waldprodukte, wie Rattan, aus dem in den Städten Möbel hergestellt werden. Robert Knox Dentan ist der Ethnograf der Semai. Seit 1962 hat er viele Jahre bei ihnen verbracht. Der US-Amerikaner war besonders fasziniert von den Semai, da er selbst aus einer Kultur kommt, in der das Leben gefährlich sein kann und in der Gewalt immer wieder verherrlicht wird. Durch das Studium dieser und weiterer gewaltarmer Kulturen wurde Dentan zum Experten für Gewaltlosigkeit und damit zu Hause in den Staaten auch zum gefragten Experten für Gewalt.
Das große kulturelle Thema der Semai ist soziale Harmonie. Das gilt für die Beziehungen in der eigenen Gruppe genauso wie für den Umgang mit anderen – auch mit den Vertretern der Provinzverwaltung, die in ihrem Wohngebiet eine Nickelmine errichten will. Die Semai sind kein sanftmütiges Naturvolk, bei dem es gar nicht erst zu Konflikten kommt. So etwas gibt es nur in der Pop-Ethnologie. Das Leben soll friedlich sein, und dafür tun die Semai eine Menge. Normen, Werte und die ganze Erziehung drehen sich um Gewaltlosigkeit. Auch bei ihnen gibt es Meinungsverschiedenheiten, aber sie mildern Konflikte, zum Beispiel, indem sie versuchen, Gefühle des Ärgers bewusst zu unterdrücken. Auch bei ihnen gibt es Streit. Es geht um Sachbesitz und Landnutzung, um Seitensprünge und Unfruchtbarkeit.
Ein Konflikt muss aus Sicht der Semai aber ohne Gewalt ausgetragen werden. Also beruft der Häuptling bei einem solchen Anlass eine Zusammenkunft ein, das becharaa’ . Die Kontrahenten treffen sich im Haus des Anführers und bringen Verwandte mit. Auch wer sonst noch Interesse hat, kann dazukommen. Zunächst wird viel geredet und getrunken. Dann tragen die Gegner ihre Sicht der Dinge vor. Alle Anwesenden können ihre Meinung dazu sagen und Fragen an die Kontrahenten stellen. Wie in einer kalifornischen Marathon-Psychogruppe wird der Konflikt aus jeglicher Perspektive besprochen. Man redet so lange, bis wirklich alles gesagt ist. Es
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