Heimat Mensch - Was uns alle verbindet
geht nicht um Schuldzuweisungen oder einseitige Interessendurchsetzung, sondern um Konfliktverarbeitung. Statt sich gewaltsam abzureagieren, wird geredet, bis der Ärger verflogen ist.
Am Ende hält der Häuptling oder einer der Alten noch eine Rede, ermahnt die Kontrahenten und betont, wie bedeutend der Zusammenhalt der Gruppe und wie wichtig die soziale Harmonie ist. So werden auch starke Konflikte in Ruhe beigelegt. Man achtet darauf, dass jeder mit geradem Rückgrat aus der Angelegenheit herauskommt. Da wundert es nicht, dass es bei den Semai so gut wie keine Mordfälle gibt. Sie kommen vor, aber sie sind so selten, dass Ethnologen lange annahmen, Mord sei bei ihnen ganz unbekannt.
Die Friedlichkeit wird durch eine Vielzahl von Normen gestützt – vor allem aber durch ihr Selbstbild. Die Semai sehen sich selbst als friedlich. Die Umwelt halten sie für aggressiv und feindlich, nicht nur die Nachbarn, sondern auch die Natur. Dort hausen böse Mächte und Geister. Die Semai haben vor allem ein klares Bewusstsein ihrer Angewiesenheit auf die eigene Gruppe. Das Teilen von Nahrung bestimmt ihr Leben. Und so erziehen sie ihre Kinder nicht nur zur Gewaltlosigkeit, sondern auch dazu, alles zu teilen.
Auch für Konflikte mit anderen Gruppen haben die Semai eine eigene Herangehensweise. Werden sie bedroht, weichen sie aus, statt sich dem Konflikt zu stellen. Sie bauen ihre einfachen Häuser ab, ziehen woandershin und errichten eine neue Siedlung. Die Semai führen keine Kriege, weder untereinander noch mit Nachbarethnien. Als Sklavenjäger ihnen nachstellten, verschwanden die Semai scheinbar spurlos im Wald. Im modernen Staat führt die Ausweichtaktik mitunter selbst zu Problemen, zum Beispiel mit der Regierung.
Fragt man die Semai, warum sie so viel Wert auf ein friedliches Leben legen, erfährt man nicht viel. Das ist eine allgemeine Erfahrung von Ethnologen. Direkte Fragen nach dem Warum führen nicht weit. Die Semai reflektieren ihre friedfertigen Umgangsformen im Alltag so wenig, wie sie die Existenz übernatürlicher Wesen in Frage stellen. Die Semai wissen einfach, dass es sie gibt. Und so ist es im Prinzip in allen Gesellschaften. Die Kultur wird gelebt und für »natürlich« gehalten. Zweifel an den eigenen Vorstellungen kommen selten auf. Die Semai wissen einfach, dass Harmonie wichtig ist. Sie haben ihre Gewaltvermeidung nicht erst kürzlich von westlichen Predigern gelernt oder von den internationalen Organisationen, deren Vertreter sich in Kuala Lumpur bei Banketten die Hand reichen. Sie leben so, solange sie denken.
Die Kultur der Semai ist gewaltarm, aber ihre einzelnen Mitglieder können durchaus aggressiv sein. Einige Männer wurden in den 1950er Jahren von den Briten rekrutiert, um die Aufstände von Kommunisten gegen die Kolonialregierung zu bekämpfen. Sie waren aggressive Kämpfer. Zurück in ihren Siedlungen, kehrten sie aber zur gewohnten friedlichen Lebensart zurück. Die Semai leben in einer modernen Welt, in der sie nicht allein sind. Die Einführung von Alkohol und modernen Waffen bedroht den inneren Frieden. Sie können nicht mehr ausweichen, sie müssen heute auf andere reagieren. Viele Semai bleiben bei ihrer Haltung, lieber zu sterben, als gegen andere zu kämpfen, die ihnen ihr Land wegnehmen wollen. Andere Semai argumentieren dagegen, dass die kompromisslos friedliche Haltung aufgegeben werden muss, wenn ihr Volk nicht untergehen soll.
Alles, was existiert, ist möglich!
Es gibt also tatsächlich Kulturen, die dauerhaft friedvoll sind. Bislang wurden über 70 Gesellschaften gefunden, die keine Kriege führen. Das ist zwar nur ein Bruchteil der weltweit an die 7000 Kulturen, trotzdem bleibt es ein wichtiger empirischer Befund. Die meisten von ihnen sind übersichtliche Gruppen zwischen einigen Hundert und wenigen Tausend Personen. Es gibt aber auch kleine Gesellschaften, die den Semai sogar in vielen anderen Aspekten ähneln – und Gewalt positiv sehen. Auch das sind wichtige Feststellungen. Schließlich leben die gewaltarmen Gesellschaften meist am Rande der modernen Zivilisation. Da liegt die Vermutung nahe, dass es die Gewaltfreiheit nur um den Preis von Marginalität und Isolation gibt.
Können Gesellschaften auch friedlich werden, wenn sie es nicht schon lange sind? Die Antwort ist ein vorsichtiges Ja. Ein Beispiel sind die Fipa in Tansania, eine Gruppe von über 100000 Menschen, die von der Landwirtschaft leben. Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts waren sie permanent in
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