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Heimat

Heimat

Titel: Heimat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Verena Schmitt-Roschmann
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Sie ist nicht mehr so gut zu Fuß, das Kohleschleppen im Winter fällt ihr schwer. Und obwohl sie immer noch zum Dorffasching und zum Feuerwehrfest geht, findet sie auch, dass sich in Staakow einiges verändert hat.

    Vor der Wende, da hätten sich alle geholfen, aber danach? »Die haben sich gegenseitig die Luft nicht gegönnt«, meint die Rentnerin. Beim Tanzvergnügen hätten einige Leute angefangen, vor der Tür Bier und Schnaps zu bunkern, damit sie es nicht teuer in der Dorfkneipe kaufen müssen. »Das kann ich nicht verstehen«, sagt sie. »Der Kneiper muss doch auch überleben können.« Plötzlich hätten alle ein großes Auto haben wollen, auf jeden Fall ein größeres als der Nachbar, gekauft auf Pump. »Der Neid wurde immer schlimmer.«

    Auch gibt es offenbar noch einige offene Rechnungen. Wo heute die Cargo-Lifter-Halle mit dem Tropenparadies steht, war früher der »Russenflugplatz«, der größte russische Militärflughafen der DDR in Brand. Staakow lag direkt in der Einflugschneise, Edelgard Habicht konnte samstags nachmittags beim Kaffee im Garten den Piloten der Antonows zuwinken. Ganz in der Nähe war das Stasi-Wachregiment Feliks Dzierzynski stationiert und auch der Soldatenfriedhof von Halbe ist nicht weit. Grund genug für die Stasi, ein Auge auf Staakow zu haben. Einige der mutmaßlichen Spitzel sind inzwischen gestorben, andere leben noch, über die man manches weiß oder zu wissen glaubt oder zu vermuten meint. Keiner habe das je offen ausgesprochen, keiner sei je zur Rede gestellt worden, sagt Edelgard Habicht. Die kleine Dorfgemeinschaft lebt seit 20 Jahren mit dem gefräßigen Verdacht.

    Insgesamt müsse man inzwischen aufpassen, wem man noch was erzählt, weil es sonst sofort rum sei im Ort. Harmloses werde mitunter als Missgunst ausgelegt. Die Klage der alten Dame gipfelt in dem bemerkenswerten Satz: »Es ist ja schon fast wie in der Stadt.« Also richtig schlimm.

    Ganz ähnlich sieht es das Ehepaar Nun am anderen Ende der Dorfstraße, beide an die 60 und einigermaßen ernüchtert über die 20 Jahre seit der Wende. »Es ist alles so schnelllebig geworden«, sagt Monika Nun, die nach 37 Jahren Schuldienst kurz vor der Pensionierung steht. »Das Menschliche im Dorf ist verloren gegangen.«

IV. Fremde Heimat Deutschland

    Die Deutschen machen es sich nicht leicht mit der Heimat, und sie machen es sich nicht leicht miteinander. Vor allem aber sind sie seit Jahrzehnten unglaublich mit sich selbst beschäftigt - mit ihrer Identität, mit ihrer Geschichte, mit ihrem Sein und Bewusstsein, mit ihren Aufbrüchen und Umbrüchen, Sehnsüchten und Beschränktheiten. Sie verhandeln mühsam miteinander, wie viel Deutschsein derzeit gestattet ist und wer es wem verwehrt und wie lange noch, wobei der Holzschnitt mehr zählt als die feine Spitze.

    Im Abseits dieser Nabelschau jedoch stehen Millionen in diesem Land, deren eigene Suche jahrzehntelang kaum beachtet wurde, denen kaum dieselben Brüche und Sehnsüchte zugebilligt wurden. In ihrem Wunsch nach Zugehörigkeit, nach Heimat und Verortung, mit ihrer Nostalgie im Gedanken an eine einfachere Zeit und einen heilen, unkomplizierten Ort sind viele Migranten in Deutschland geradezu urdeutsch. Die Fliehkräfte der Globalisierung wirken auf alle, das emotionale Durcheinander der Identitätsfindung könnte Deutsche und Nichtdeutsche und Neudeutsche im Land verbinden. Tatsächlich beäugen sie einander jedoch misstrauisch vom jeweils anderen Ende der Zugbrücke.

1.Nicht hier und nicht dort: Warum eine junge Deutsche nicht deutsch ist
    Lisa Müller. So nennen wir die junge Frau jetzt Mal, denn sie möchte nicht mit ihrem echten Namen auftauchen. Lisa Müller also ist 36, verheiratet, zwei Kinder. Sie ist in Berlin-Reinickendorf geboren und wohnt jetzt mit ihrer Familie in Charlottenburg. Von Beruf ist sie Rechtsanwalts- und Notarsfachangestellte. Einige Jahre hat sie bei einem Notar gearbeitet, dann nahm sie sich eine längere Babypause. Inzwischen hat sie eine halbe Stelle als Sekretärin an der Uni. In ihrer Freizeit, wenn denn welche bleibt bei all dem Trubel mit den Kindern, liest sie gerne, und seit neuestem macht sie einen Kurs in Gedächtnistraining, weil sie findet, sie ist manchmal so vergesslich, und überhaupt - um auch mal was für sich zu tun.

    Es ist eine Geschichte aus der deutschen Mittelschicht, eine Durchschnittsfamilie mit Kleinwagen und kleinem Glück. Warum also, um Himmelswillen, war das so ein Problem, als Lisa ihre ältere

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