Heimat
Tochter Leila auf der Sprengelschule in ihrem Stadtteil anmeldete? Die Mutter hatte nämlich festgestellt, dass ihr Kind auf der Montessori-Schule, die sie sich zuerst ausgesucht hatte, nicht genug lernte, mit Leilas Lesen und Schreiben war Lisa nicht zufrieden. Sie meinte, die Kinder spielten zu viel und arbeiteten zu wenig. Aber als ihre Tochter nach der dritten Klasse die Schule wechseln sollte, musste sich Lisa sogar von der Schulsekretärin Vorwürfe anhören. Später, als in der Klasse ihrer jüngeren Tochter Lena eine Elternsprecherin gesucht wurde, waren alle erstaunt, dass sich Lisa wählen ließ. Warum?
Lisa Müller heißt eben nicht Lisa Müller. Sie heißt eher Eljesa Özdemir, oder jedenfalls so ähnlich. Und ihre Töchter heißen nicht Leila und Lena, sondern eher Elma und Emina. Beide haben den dunklen Teint und die kleine Statur ihrer Mutter und ihres Vaters geerbt, die Kleine auch Eljesas quirlige dunkle Locken. Im gutbürgerlichen Charlottenburg leben die vier nicht in einer jener großzügigen Altbauwohnungen mit Blick auf den Lietzensee, sondern in einer kleinen Drei-Zimmer-Wohnung an einer Durchgangsstraße. Und wenn so jemand kommt, das weiß auch Eljesa, da gehen in den Köpfen sofort die Schubladen auf: Oh je, Migrant, muslimisch, arm, bildungsfern, integrationsmüde, schlechtes Deutsch - Problem, Problem, Problem. »Ich denke schon, dass die Deutschen uns
als Ausländer zählen, egal, ob wir Deutsche sind oder nicht nach dem Pass«, sagt Eljesa. »Ich vermute, dass die das auf jeden Fall denken.« Aber wer weiß schon genau, wer was über wen denkt in diesem Land.
Eljesa und ihr Mann Enes sind beide in Berlin aufgewachsen. Seit Mitte der 90er Jahre sind sie deutsche Staatsbürger, ihre beiden Töchter ebenfalls. Die Einbürgerung kostete sie keine großen Seelenkrämpfe, wie Eljesa sagt. »Ich wollte hier leben und auch überall hin verreisen können, ohne Visum.« Ihre Eltern, beide bis heute mit türkischem Pass, fragten zwar nach: »Wozu brauchst du das?« Aber auch sie hatten kein großes Problem damit. Eljesa und Enes durften ihren türkischen Pass behalten, sie weiß nicht genau, warum. Denn die doppelte Staatsbürgerschaft gibt es offiziell nicht für Eingebürgerte von außerhalb der EU - 1999 wurden darüber politische Schlachten geschlagen und verloren. Tatsächlich sind aber im Einzelfall bis heute Ausnahmen erlaubt.
Für Eljesa spielt das keine große Rolle. »Ich habe mir darüber keine Gedanken gemacht«, sagt sie. Sie ist, was sie ist, Pass oder nicht, in ihrer Nische fest verwurzelt, man könnte sagen: gefangen, wobei sie selbst wahrscheinlich so weit nicht gehen würde. In jedem Fall lebt sie irgendwo zwischen dem Hier und Dort, in zwei Welten und in keiner. »Eigentlich bin ich heimatlos«, sagt sie. »Das hier ist nicht meine richtige Heimat, aber die Türkei ist es auch nicht. Aber ich bin sehr gerne in Berlin. Heimat ist doch letztlich dort, wo die Lieben sind.«
Ihre Eltern kamen 1972 aus einem Dörfchen an der syrischtürkischen Grenze nach Deutschland, »weil es hier Arbeit gibt und man gut Geld verdienen kann«. Beide fanden Stellen im öffentlichen Dienst, zuletzt beim Finanzamt - er als Lagerarbeiter, sie als Putzfrau. Und sie verdienten tatsächlich ganz gut. Die Familie bekam sechs Kinder. In Reinickendorf fand sie eine Mietswohnung in der Einflugschneise des Flughafens Tegel. Zuhause wurde, wie im Heimatdorf, arabisch gesprochen, nicht türkisch und auch nicht deutsch. Die Sommerferien verbrachten alle gemeinsam in Opas Haus. Ansonsten machten sich die Kinder der Familie auf durch die deutschen Institutionen - Schule, Ausbildung, Beruf.
Als ihre erste Tochter geboren wurde, wollte Eljesa sie gerne zweisprachig
erziehen. Aber im Arabischen fehlten ihr die Wörter. Ihr Türkisch sei sowieso nicht das beste, meint sie. »Da dachte ich: Mein Gott, was will ich ihr jetzt eine halbe Sprache beibringen?« So sprach sie nur noch deutsch mit den Kindern. Ganz zufrieden ist sie allerdings damit nicht. »Ich werde meinem Kind nie geben können, was ein Deutscher seinem Kind gibt. Ich habe das selbst nicht mitbekommen, ich habe es mir nur angelesen. Da fehlt mir was.«
Es ist nicht ganz ersichtlich was, denn Eljesa spricht perfekt deutsch. Nie sucht sie nach Wörtern, nie stolpert sie über Grammatik. Wer sie am Telefon hört, kommt bestenfalls nach einer kleinen Weile drauf, dass da irgendwo ganz weit hinten ein kleiner Akzent ist, die Sch- und Dsch-Laute -
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