Heimat
unter den DDR-Flüchtlingen des Vorjahrs nach acht Monaten noch 28 Prozent der Männer und mehr als die Hälfte der Frauen arbeitslos. Viele nahmen zum Einstieg einen beruflichen Abstieg hin - in der Hoffnung, dass er vorübergehend sein würde. 223
Die oft nach Repressalien oder unter konspirativen Umständen übergesiedelten Ostdeutschen, von der SED als Schurken und Halunken beschimpft, wurden also keineswegs immer mit offenen Armen empfangen. Zehntausende kehrten über die Jahre mit ihren enttäuschten Hoffnungen in die DDR zurück, wo sie im Zentralen Aufnahmeheim Röntgental wiederum von einer misstrauischen Staatsmacht in die Mangel genommen wurden. 224
Gleichwohl schwoll der Flüchtlingsstrom aus der DDR Ende der 80er-Jahre rasant an und trug dazu bei, das Regime in Ostberlin aus dem Amt zu spülen. Im Sommer des Rette-sich-wer-kann 1989 kämpften viele der Gebliebenen mit der Ahnung, bald alleine auf einem sinkenden Boot in die Tiefe zu strudeln. Die Maueröffnung wirkte als Schleuse, hielt die Welle aber nicht auf. Von Januar 1989 bis Ende Juni 1990 zogen insgesamt knapp 600.000 Menschen von
Ost nach West - und tauschten die Heimat gegen Schulen, Kasernen und andere Notunterkünfte. 225
Bei aller Euphorie über die friedliche Revolution in der DDR gingen viele Westdeutsche wiederum auf Distanz. Der saarländische Ministerpräsident Oskar Lafontaine verlangte schon im November 1989 die Einschränkung der sozialen Privilegien, und der »Spiegel« berichtete im Februar 1990: »In Westdeutschland kocht der Hass auf die Übersiedler hoch.« Im März strich die Bundesregierung mit Wirkung zum 1. Juli die Privilegien des Notaufnahmegesetzes. 226
Nicht nur »Sozialneid« stand im Zentrum der Debatte. Den alten Bundesrepublikanern schienen die »Brüder und Schwestern« aus dem Osten oft wie vom andern Stern. »Mir ist auch klar geworden, dass unser Verständnis von dem Leben, den Nöten und Bedürfnissen der Menschen in der DDR gleich Null war«, beschrieb Marina Wolff-Bühring, langjährige Leiterin des Hamburger Vereins Flüchtlings-Starthilfe, die kulturelle Kluft. »Wir waren hier, und die waren drüben. Sie hätten auf Patagonien sitzen können, dann wären sie nicht weiter entfernt gewesen.« 227
Die Abschottung der beiden deutschen Hälften in ihren jeweiligen Bündnissystemen, der de facto sehr geringe Austausch beider Bevölkerungsteile, hatte über vier Jahrzehnte ganze Arbeit geleistet. »Die Folge war, dass Flüchtlinge und Übersiedler aus der DDR als Fremde wie Asylsuchende wahrgenommen wurden«, schreibt Heidemeyer. »Stark waren die Abwehrreflexe, als sie 1989/90 in großer Zahl zuströmten.« 228 Tatsächlich schlugen einzelne westdeutsche Politiker Ende 1989 vor, DDR-Bürger ins Asylverfahren aufzunehmen und ihnen nur noch bei nachgewiesener politischer Verfolgung ein Bleiberecht zu gewähren. Die Berufung auf die deutsche Nation einerseits wie auch der Wunsch nach VW-Golfs und billigem Röstkaffee andererseits sollten als Motiv für die Aufnahme in der Bundesrepublik nicht mehr ausreichen. 229
So rührte diese deutsch-deutsche Völkerwanderung in vielfacher Weise am prekären Selbstverständnis beider Staaten und an ihrem ungeklärten Verhältnis zu Heimat und Nation. Die jahrzehntelange Suggestion nationaler Einheit, die in der Wendezeit in den »Wir-sind-ein-Volk«-Sprechchören
nachhallte, stand im Gegensatz zu der wechselseitigen Befremdung. Im Konkreten kämpften gleichzeitig Millionen, die sich aus welchem Grund auch immer von Zuhause losgerissen hatten mit dem Verlust der alten Heimat, der unerfüllten Sehnsucht nach Vertrautheit in der neuen und den Verteidigungsreflexen der anderen.
Die schiere Dimension der Übersiedlung deutet aber noch auf einen anderen Aspekt: Heimatverlust durch Entvölkerung. Während die westdeutsche Bevölkerung von 1949 bis 1999 Dank Babyboom und Zuwanderung um 17,4 Millionen Menschen wuchs, schrumpfte die ostdeutsche um 3,5 Millionen. 230 Von 1991 bis 2008 verloren die neuen Länder unter dem Strich eine Million Ost-West-Wanderer - jedes Jahr im Schnitt ein bis zwei mittelgroße Städte. 231 Hinzu kommt der dramatische Geburteneinbruch der Nachwendezeit im Osten, als sich die Zahl der Neugeborenen praktisch halbierte. 232
Insgesamt gingen den neuen Ländern seit der Vereinigung zehn Prozent der Bevölkerung verloren. Experten erwarten eine Beschleunigung des Trends, zumal wegen des Geburtenknicks die Zahl der Unter-20-Jährigen in den neuen
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