Heimat
vage. »Hier machen wir, wie wir es wollen.« Und in der Ukraine? Da gab es sowieso keine Arbeit mehr für ihn, wie er sagt. Mit der Wirtschaft ging es nach dem Ende der Sowjetunion bergab. 1991 beschlossen die deutschen Innenminister, Juden aus der ehemaligen Sowjetunion legal nach Deutschland einwandern zu lassen - eine humanitäre Geste fünf Jahrzehnte nach den NS-Verbrechen. Feliks war einer von mehr als 200.000, die bis 2005 einreisten.
Sein jüdisches Erbe allerdings ist ihm weitgehend fremd. »In der Sowjetunion, das war wie in der DDR, Religion gab es nicht, da gab es nur die Partei«, erklärt er. »Wir hatten in meiner Stadt drei Synagogen: eine war eine Fußballhalle, eine war ein Großmarkt und eine ein Kindergarten.« In der jüdischen Gemeinde Berlin sind inzwischen etwa 90 Prozent der Mitglieder Zuwanderer aus den GUS-Staaten, viele von ihnen ohne tiefere Kenntnisse des Judentums. Auch Feliks war mal in der Synagoge. »Das ist meine Geschichte und meine Kultur«, sagt Feliks. »Aber Gott muss man im Herzen tragen.« Er legt sich die Hand auf die Brust. »Wenn man Gott im Kopf hat, dann gibt es Probleme.« Dass er in Deutschland Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit zu fürchten hätte, glaubte er schon vor der Abreise aus der Ukraine nicht. »Das ist alles Quatsch, totaler Quatsch.« In seiner alten Heimat sei die Feindseligkeit gegenüber Juden weit schlimmer gewesen. Die Hakenkreuzschmierer und Schläger in Deutschland nimmt er nicht weiter ernst: »Arschlöcher gibt es überall.«
An eine Rückkehr in die Ukraine denkt Feliks jedenfalls nicht - im Gegenteil. Sobald sein Deutsch gut genug ist, will er den deutschen Pass beantragen. Sein Sohn macht bald Abitur, danach will er eine Universität für ihn aussuchen. Was er an der Heimat vermisst? Feliks denkt einen Moment nach. Dann sagt er: »Eigentlich nichts.« Am Anfang, kurz nachdem er und Lilja angekommen waren, gab es
noch kein russisches Fernsehen im Kabel. Mit deutschen Sendungen hat er seine Schwierigkeiten, beim Übersetzen ins Russische verliert er leicht mal den Faden. Inzwischen sind mehrere russische Radiound TV-Sender für Berlin im Angebot und mehrere russischsprachige Zeitungen und Zeitschriften, sogar eine eigene Fernsehzeitschrift. »Es ist eigentlich alles wie zuhause«, meint Feliks ganz ernsthaft bei seinen Blini und Piroggi hinter der Theke.
Nur eines regt ihn auf: die deutsche Bürokratie. Und die Steuern. Denn die, da ist er sich sicher, fließen direkt zu den vielen Hartz-IV-Empfängern. »Das ist das echte Problem von Deutschland, nicht der Antisemitismus«, empört er sich. Vor allem türkische Familien hat er im Visier. »Da fährt der Vater im Mercedes, und die Familie lebt von Hartz IV! Das kann doch nicht sein. Die sind seit 30, 40 Jahren in Deutschland und können noch immer nicht Deutsch!« 248
Es ist ein durchaus seltsamer Satz für einen, der ebenfalls nach einer ganzen Reihe von Jahren noch mit der deutschen Sprache ringt. Aber nur, weil man Schwierigkeiten teilt, heißt das noch nicht, dass man sich verbündet. Es gibt immer einen noch weiter unten. In diesem kleinen Universum scheint jedenfalls länger kein Kosmonaut vom fremden Stern der türkischen Zuwanderer vorbei gekommen zu sein.
Offiziell sind in Berlin gut 15.000 Russen gemeldet, dazu rund 9.000 Ukrainer. 249 Geschätzt wird die Zahl russisch-sprachiger Migranten in der Hauptstadt aber auf bis zu 300.000. In Charlottenburg gibt es inzwischen so viele russische Lebensmittelläden und Supermärkte und Schuhmacher und Buchhändler und Pflegedienste und Imbissbuden, dass wieder von »Charlottengrad« die Rede ist, so wie in den 20er Jahren, als Vladimir Nabokov und Ilja Ehrenburg und 250.000 weitere Revolutionsflüchtlinge hier im Exil lebten.
Der entscheidende Unterschied zu damals, meint der Historiker Karl Schlögel, sei jedoch, dass die neuen Zuwanderer nicht auf die alte Heimat ausgerichtet seien. Billigfluglinien und Satellitenschüsseln
erlauben eine Verbindung nach Hause ohne endgültige Rückkehr, und daneben wird ein Gutteil der alten Heimat als Spezialitäten zwischen Borscht und Wodka importiert. »Man kann in der Fremde angekommen und doch ganz bei sich zu Hause geblieben sein«, schreibt Schlögel. 250 Er spricht von einer »Art Parallelgesellschaft«, zumal man theoretisch fast sein ganzes Leben im Viertel auf Russisch abwickeln kann.
Doch im Gegensatz zur teils aufgeregten Debatte über Abschottung und Ghettos anderer
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