Heimat
Migrantengruppen ist die Kommentierung dieser exotischen Exklave, die in nur zwei Jahrzehnten seit der Wende im Ostblock im Westen Berlins gewachsen ist, durchaus wohlwollend. »Ich finde es gut, dass die Russen hier sind«, schrieb zum Beispiel Ernst von Münchhausen in einer Kolumne in der »Welt«. 251 »Das gibt Berlin eine sehr besondere Internationalität und ist Ausdruck der historischen Brückenfunktion Deutschlands zwischen Ost und West.« Eine Weile machten angebliche Aktivitäten der »Russenmafia« in Deutschland Schlagzeilen. Doch sind diese nach Einschätzung von Experten seit etwa zehn Jahren rückläufig. 252 Auch um die Schwierigkeiten russischsprachiger Spätaussiedler ist es still geworden. Spätestens seit den spektakulären Erfolgen des immigrierten Schriftstellers Wladimir Kaminer mit »Russendisko« und anderen Schelmenstücken aus dem Alltag eines Zuwanderers überwiegt das positive Image der russischsprachigen Neu-Berliner.
Die Frage ist: Warum? - in einem Land, das sich jahrzehntelang als Anti-Einwandererland definierte und das in vielen anderen Zuwanderergruppen hauptsächlich ein Problem sieht, selbst wenn sie nicht mit einer hoch komplizierten Muttersprache und eigenen Schriftzeichen ankommen. Die Antwort liegt in der deutschrussischen Geschichte, im Verständnis gemeinsamer europäischer Wurzeln, in einer gemeinsamen christlich-jüdischen Tradition - das ja, natürlich. Aber sie ist eben auch begründet im rechtlichen Status der russischsprachigen Zuwanderer, die zum einen als jüdische Kontingentflüchtlinge und zum anderen als »deutsche« Spätaussiedler aus den ehemaligen Sowjetrepubliken kamen. Beide Gruppen hatten sofort unbegrenztes Arbeits- und Aufenthaltsrecht und Aussicht auf die deutsche Staatsbürgerschaft. Die Regierung hatte gute historische Gründe ihnen diesen sicheren Status zu gewähren, unbenommen.
Gleichwohl schuf sie einen rechtlichen Sonderfall in der Einwanderungspraxis der Bundesrepublik. Die These ist hier nicht: Die Privilegien waren falsch. Vielmehr hätten viele andere Probleme vermieden werden können, wenn der deutsche Staat früher und eindeutiger sein Verhältnis zur Migration insgesamt geklärt hätte.
»Wir können und wollen kein Einwanderungsland werden«, erklärte Bundeskanzler Helmut Schmidt 1979. 253 »Wir waren nie ein Einwanderungsland und wir sind’s bis heute nicht«, sagte Innenminister Wolfgang Schäuble 2006. 254 »Deutschland ist nach wie vor kein klassisches Einwanderungsland«, schrieb das Auswärtige Amt noch 2010 auf seiner Internetseite. Es ist ein deutscher Glaubenssatz. 255
Jenseits der Beteuerungen begann die Einwanderung ausländischer Staatsbürger aber spätestens mit dem deutsch-italienischen Anwerbeabkommen vom November 1955 - geschlossen übrigens genau ein Jahr, nachdem das Bonner Arbeitsministerium noch erklärt hatte, es »bestehe zunächst nicht die Absicht, ausländische Arbeitnehmer in die Bundesrepublik zu holen«. 256 In Zeiten einer vom Wirtschaftswunder gesicherten Vollbeschäftigung folgten schnell weitere Verträge, nämlich 1960 mit Griechenland und Spanien, 1961 mit der Türkei, 1963 mit Marokko, 1964 mit Portugal und 1965 mit Tunesien. Die Zahl der Ausländer in der Bundesrepublik stieg von rund 500.000 im Jahr 1955 auf drei Millionen oder fünf Prozent der Bevölkerung im Jahr 1970. 257 Die ersten »Gastarbeiter« kamen ohne Familie ursprünglich nur für wenige Jahre, lebten in Baracken, sparten eisern und schickten das Geld nach Hause. Doch schon 1964 wurde das sogenannte Rotationsprinzip aufgegeben, wonach immer neue Gastarbeiter nach kurzer Zeit die vorhandenen ersetzen sollten. Die Arbeitgeber sahen Nachteile darin, bewährte Arbeitnehmer ständig gegen neue Leute auszutauschen. 258 Während der konjunkturellen Flaute Ende der 60er Jahre wurde die Anwerbung weiterer ausländischer Kräfte zeitweilig in Frage gestellt, und Hunderttausende verloren ihren Job. Nach wirtschaftlicher Erholung schloss die Bonner Regierung aber 1968 ein weiteres Anwerbeabkommen, diesmal mit Jugoslawien. Erst mit der Ölkrise folgte 1973 ein endgültiger Anwerbestopp. Zu dem Zeitpunkt - nach knapp zwei Jahrzehnten Zuwanderung - waren rund 2,6 Millionen Ausländer in
Westdeutschland beschäftigt, einschließlich der Familien lebten hier vier Millionen Migranten. Sie hatten zwar größtenteils einen unbefristeten Aufenthaltstitel, aber keine geklärte Perspektive. 259
Die Bundesregierung hatte mit dem Anwerbestopp ein
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