Heimaturlaub
Blüte,
die sich dem Tau des Morgens öffnet,
begierig, das Naß zu schlürfen
und doch im Zittern gebunden in der Angst
vor der reifenden Fruchtbarkeit.
Einem Liede gleichst du,
einem seligen Sang von der Freiheit der Seele
und doch von den Schmerzen der Welt.
Nein, Geliebte,
deinen Namen nenne ich nie,
denn du bist das Urbild der Erde,
du bist das Leben selbst … GELIEBTE!
Während sie las und ihre Stimme sich steigerte, war Frau Lancke hereingetreten und setzte sich leise in eine Ecke, bis Hilde geendet hatte. Erst dann trug sie den Tee und das Gebäck zum Tisch und nahm auf einem Stuhl an Hildes Seite Platz.
»Sie haben eine schöne Stimme«, sagte sie anerkennend. Hilde schlug die Augen auf und lächelte. »Sie hätten Schauspielerin werden können.«
»Die Bühne war auch immer mein Traum. Aber Onkel wollte es nicht … Was sagen Sie zu dem Gedicht von Heinz? Ich dachte immer, er sei ein Hallodri, ein Lümmel, ein Schnöselchen trotz seiner Stellung, und alles sei bei ihm Spiel, er nehme alles leicht, auch die Liebe. Und jetzt dieses Gedicht? Ich hätte es nicht geglaubt … haben Sie Heinz auch so lieb?«
»Er ist mein zweiter Sohn. Und Sie sollen meine Tochter sein.«
»Wenn ich darf …«, sagte Hilde schüchtern und blickte zu Boden. »Wenn Sie mir nicht böse sind, daß ich Ihnen Heinz entzogen habe.«
»Entzogen? Dem Lümmel fehlte schon längst so eine Frau wie Sie!«
»Sie haben seinen Vater noch gekannt?«
»Ja. Das war ein strenger Mann, so, wie er da auf dem Bild blickt. Ganz Aristokrat. Als er erfuhr, sein Sohn wolle Künstler werden, steckte er ihn in ein Internat. Aber Heinz kletterte nachts über die Mauer und schloß sich einer Wanderbühne an. Der Vater erfuhr bald, wo er steckte, holte ihn mitten aus der Vorstellung heraus – Heinz spielte mit achtzehn den alten Moor in den Räubern von Schiller –, und er mußte unter strenger Obhut sein Abitur machen und Philosophie belegen. Nach seinem Staatsexamen aber pfiff er auf die Wissenschaft, ging schließlich als lyrischer Bariton zur Oper und ersang sich an der Staatsoper Dresden den Kammersängertitel. Dann erst ging er zur Presse über, schrieb eine Reihe Theaterstücke und Bücher und wurde als Redakteur – oder Schriftleiter, wie man heute sagt – und durch seine weithin bekannten Kommentare im Rundfunk zur Kulturpolitik, zur Literatur und Kunst der große Presse-Wüllner … Der ganze Lebensablauf ist typisch für ihn; ein Unruhegeist, wie er im Buche steht, voller neuer Ideen und Pläne und dabei immer auch zu einer Albernheit aufgelegt. Seine Ironie kann nicht jeder ertragen …«
»Schnöselchen!« sagte Hilde mit Nachdruck. »Aber ich werde ihm das unruhige Leben abgewöhnen. Er soll Ruhe haben und ein Heim … und wenn erst ein kleiner Wüllner da ist …«
Frau Lancke umarmte Hilde stürmisch.
»So ist es richtig! Beschneide ihm die Hörner. Sei der ruhende Pol in seinem Leben … Heinz braucht das. Weißt du was? Du darfst nicht wieder fort. Du bleibst hier, in dieser Wohnung. Als seine Frau kannst du hier walten, wie du willst. Ich soll auf dich aufpassen und dich zu mir nehmen – das waren seine letzten Worte. Wie eine Tochter …«
Plötzlich dämpfte sie ihre Begeisterung und sagte ernst: »Aber du mußt erst deine Eltern fragen, ob es ihnen recht ist.«
»Ich habe Vater und Mutter gefragt … sie sind einverstanden und segnen mich«, entgegnete sie schlicht.
»Du hast schon mit ihnen gesprochen?«
»Ja, im Gebet … ich habe keine Eltern mehr …«
Frau Lancke fühlte, wie ihre mütterliche Liebe, die sie bisher nur dem äußerst selbständigen Wüllner geben konnte, nun auch auf dieses süße, kleine tapfere Mädchen überging. Sie nahm Hildes Kopf zwischen ihre verarbeiteten Hände, küßte Hilde auf die Stirn und sagte:
»So will ich deine Mutter sein … und du sollst Mutter zu mir sagen … wenn du magst …«
Da barg Hilde ihren Kopf in dem Schoß der alten Frau und nickte nur.
Frau Lancke, die ihre Rührung kaum verbergen konnte, flüchtete sich in eine polternde Grobheit:
»Jetzt wird endlich Tee getrunken und gegessen. Verstanden?!«
»Ja«, sagte Hilde folgsam, trank Tee, knabberte Gebäck und erzählte dabei, wie sie Heinz kennengelernt hatte – von der S-Bahn, dem ungespitzten Bleistiftstummel, der zwei Tage alten Zeitung, der scharfen Kurve und der Wüllnerschen charmanten Frechheit. Immer wieder nickte Frau Lancke mit dem Kopf und sagte: »Typisch, typisch.« Nur das Erlebnis mit dem
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