Heimaturlaub
Kriminalbeamten in der Bar gefiel ihr nicht. Denn sie hatte eine Abneigung gegen alles, was geheim hieß. Seitdem man in Dahlem einmal einen politischen ›Verbrecher‹ gesucht und das ganze Haus auf den Kopf gestellt hatte, war sie nicht gut zu sprechen auf die Polizei, und erst recht nicht auf die Gestapo.
»Meine Mutter war so zart wie ich«, lächelte Hilde, »und jung, kaum achtzehn, als sie auf einem Hausball meinen Vater traf. Es war Liebe auf den ersten Blick. Mein Großvater aber erlaubte eine Ehe nicht, weil seine Tochter zu jung sei. Da wurde mein sonst so realistischer Vater sehr romantisch, entführte meine Mutter des Nachts und fuhr mit ihr nach Italien. Dort wurden sie getraut und wohnten in Venedig, Genua und Mailand. Als ihn ein wichtiger Auftrag – mein Vater war ein bekannter Architekt – nach Neapel rief, reiste er mit meiner Mutter zur Stadt des Vesuvs, obgleich ihr die Ärzte abrieten. Meine Mutter trug mich damals im letzten Monat, und die Strapazen der Reise werde sie nicht aushalten, warnten die Ärzte. Aber mein Vater mußte am Stichtag in Neapel sein, sonst hätte er diesen wichtigen und für die Zukunft maßgeblichen Auftrag verloren. Meine Mutter wollte kein Hindernis sein, schlug alle Warnungen in den Wind und begleitete ihn. Sie hätte es nicht tun sollen, es war doch zu viel. Was kommen mußte, kam. Kurz vor Neapel begannen die ersten Wehen. Vater schaffte Mutter sofort in die beste Klinik, und dort kam ich unter schrecklichen Schmerzen nach zwölf Stunden zur Welt. Meine Mutter aber … fünf Tage später ist sie still gestorben. Mein Vater war völlig gebrochen, sagte seinen Auftrag sofort ab, fuhr zurück nach Deutschland, bezog wieder seine Villa im Berliner Grunewald und bestattete meine Mutter nach einer großen Totenfeier auf dem Invalidenfriedhof. Hierfür bekam er eine Ausnahmegenehmigung. Auf das Grab baute er ein großes Marmormonument mit der Inschrift: ›Wo ich auch bin, es folgt mir deine Liebe, du bist nicht tot, in meinem Herzen lebst du ewig fort‹ …«
»Und dann starb auch der Vater?« Frau Lancke liebte den Vater Hildes allein schon wegen seiner Liebe zu seiner Frau. Sie konnte ihn sich vorstellen – ein Künstler mit einem zarten Herzen, aber einer unbändigen Energie, der seine ganze Seele an diese Frau hängte, die so gewesen sein mußte wie Hilde, dieses blonde, zierliche Mädchen, die Frau Heinz Wüllners.
»Vater starb, als ich fünf Jahre alt war. Nach Mutters Tod ist er nie wieder richtig froh geworden und ließ mich von einer Hausdame erziehen. Ich hatte viele Freiheiten, die ein anderes Mädchen in meinem Alter nicht besaß. Aber mein Vater hatte einen Fehler: Er war zu gewissenhaft. Selbst kletterte er auf dem Bau herum, um zu sehen, ob auch alles nach seinen Anordnungen ausgeführt wurde. Da brach eines Tages ein Brett unter seinen Füßen. Sieben Meter tief fiel er und brach sich die Wirbelsäule an. So lag er dann im Krankenhaus, drei Monate völlig gelähmt, bis ihn ein gütiges Schicksal erlöste … Ganz ruhig, ohne Schmerzen schlief er ein. Mein Onkel, der Bruder meiner Mutter, wurde mein Vormund, erzog mich, ließ mich das Lyzeum besuchen. Ich durfte mir einen Beruf erwählen – allerdings keinen künstlerischen, denn die Kunst sei, so sagte er, in unserer Familie ein Fluch; meine Mutter war Modezeichnerin. Ich studierte Psychologie mit der Absicht, später einen Sozialberuf zu ergreifen. Das Studium mußte ich größtenteils selbst bezahlen. Mein Onkel hatte in der Inflation fast alles verloren und konnte mir nur einen kleinen Zuschuß zahlen. Da habe ich geschneidert, Stunden gegeben und ab und zu gezeichnet und gemalt, was mir immer einen netten Gewinn einbrachte … Und nun sitze ich hier!«
Frau Lancke war über die einfache Art dieses Mädchens, über die naive Natürlichkeit so verwundert und beglückt, daß sie eine Zeitlang kein Wort sprach und Hilde in die großen blauen Augen blickte.
»Und was willst du tun?« fragte sie endlich.
»Weiter studieren, Stunden geben, Bilder verkaufen … und warten auf Heinz … ein, zwei, drei Jahre … bis der Krieg zu Ende ist.«
»Und er hat tatsächlich überhaupt nichts gesagt, dieser Lümmel?«
»Gar nichts – und ich weiß mir das nicht zu erklären.«
Frau Lancke nickte mit dem Kopf.
»Feig war er, weiter nichts. Er scheute sich zu sagen, daß er vielleicht nicht mehr wiederkommen könnte. Er wollte dir und sich den Abschied nicht so schwermachen.«
»Das sagte Oma Bunitz
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