Heimaturlaub
Weg, aber sie blickten nicht seitwärts, um die Leiden der Stadt nicht zu sehen und nicht auch in dieser stillen Stunde an die Grausamkeit der Zeit erinnert zu werden. Und doch legten sich die Wunden des Krieges wie ein Dämon über ihre Herzen und drückten die Fröhlichkeit herab zu einer stummen Besinnlichkeit.
Eine lange Zeit gingen sie so nebeneinander her, ohne ein Wort zu sprechen. Hilde Brandes fühlte sich ein wenig enttäuscht von der Zurückhaltung dieses Mannes, der ihr von Minute zu Minute sympathischer wurde. Wenn er doch wenigstens ein paar liebe Worte gesagt hätte oder auch nur den Versuch unternähme, ihre Hand zu streicheln. Aber so stumm neben ihr herzutrotten, das gefiel ihr gar nicht. Andererseits war es von ihm grundanständig, ein wehrloses Mädchen nicht gleich mit seiner männlichen Aufdringlichkeit zu belästigen.
Endlich, nach fast einer Viertelstunde, drückte Heinz Wüllner sacht ihren Arm und wandte ihr sein Gesicht zu.
»Ich weiß, was Sie denken: Daß ich ein schrecklich langweiliger Patron bin. Aber das stimmt nicht! Ich bin die Fröhlichkeit selber, und wenn Sie mich länger kennen würden, so kämen Sie von einem Staunen in das andere. Künstler, Journalisten und ähnliche Leute sind alle ein mehr oder minder lustiges Blut, nur haben wir einen Fehler: Wir sind schrecklich subtil und empfindlich. Die Erlebnisse des Krieges mit all seinen Grausamkeiten fallen auf unsere Seele wie ein eisiger Sturm, der allen Frohsinn erfrieren und absterben läßt. Doch ich will nicht darüber sprechen. Es ist zu langweilig für Sie.«
Hilde Brandes schüttelte den Kopf. Auf ihren Turban hatte sich eine dünne Schicht von glitzerndem Reif gelegt.
»Es ist überhaupt nicht langweilig – nur für mich so unheimlich fremd. Es kommt mir vor, als ob ich aus einem Traum erwache und erst jetzt merke, daß es ein Traum war.«
Sie blieben stehen. Und als sie in das dumpfe Blaugrau des nächtlichen Winterhimmels blickten, bemerkte sie vereinzelte Lichtstrahlen von Scheinwerfern in den dichten Wolken, und von ganz fern sah man es aufblitzen, ein schnelles Zucken, als sei kilometerweit ein schweres Gewitter. Heinz zeigte in diese Richtung.
»Da, sehen Sie? Der alte, nimmermüde Gott Mars stört wieder unseren Frieden. Es wird keine zehn Minuten dauern, und von den Dächern heulen die Sirenen. Dann eilen die verstörten, verängstigten Menschen in die Luftschutzräume. Was Sie da ganz weit blitzen sehen, ist Flakfeuer in großer Höhe. – Haben Sie es noch weit bis nach Hause? Wir müssen uns sonst beeilen.«
»Noch zehn Minuten«, erwiderte Hilde, die bei dem Wort Sirene unwillkürlich zusammengezuckt war.
Sie beschleunigten ihre Schritte, bogen in eine stille Querstraße ein, und Hilde wäre mit Bestimmtheit über eine von Jungen gezogene Eisschlitterbahn gefallen, hätte nicht Heinz sie fest in seinen Arm eingehakt. Und während sie so durch die ausgestorbenen Straßen eilten, die im fernen, lang zurückliegenden Frieden einmal erfüllt gewesen waren vom Getriebe weinseliger und lustiger Nachtbummler, kam ihnen beiden der Wunsch, der eine möchte doch jetzt alle Zurückhaltung verlieren und den anderen in seine Arme reißen. In diesem Augenblick heulte plötzlich von allen Seiten der greuliche Ton der Sirenen, markerschütternd, wie ein einziger Schmerzensschrei aus tausend Leibern; aus Leibern, die in dieser Nacht zerrissen, in die Luft geschleudert, verbrannt oder erstickt wurden.
Schon beim ersten Heulton schmiegte sich Hilde fest an Wüllners Körper, und Heinz legte seinen Arm tröstend um ihre Schulter. Eine ohnmächtige Wut stieg in ihm empor. War es nötig, ein ganzes Volk, eine blühende Jugend so zu zertreten?
Bereits die Neugeborenen, die unter Sirenengeheul das Licht dieser tobenden Welt erblickten, erhielten als Erbe aus dem vor Angst zuckenden Mutterleib schon das Grauen und die Unstetigkeit ins Blut gepreßt. Die Kinder erschlafften im Hagel der Bomben, verkümmerten in den Kellerlöchern einer Stadt, die zusammenbrach, weil ein Mensch, der etwas sagen wollte, was noch keiner vor ihm sagte, als neuer Nero in die Welt schrie: »Wir werden ihre Städte ausradieren!« Die Blüte der Jugend verblutete auf Europas Schlachtfeldern, wo es immer bestialischere Grausamkeiten zu erproben galt. Man eroberte das ganze Europa, streckte die Hand nach den afrikanischen Wüsten aus, rückte an Asiens Pforte, entweihte die Akropolis mit Nagelschuhen, drang in Circes Palast auf Kreta ein und hätte
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