Heimaturlaub
nicht beizukommen. Leise sagte sie: »Also gut, morgen abend um zwanzig Uhr am Zoo. – Aber wo? Am Haupteingang?«
»Ja. Bei dem steinernen Elefanten, einem Sinnbild meiner dicken Haut und meiner Geduld.«
Er drückte ihr die Hand, die sie ihm jetzt lachend entzog. An der Haustür, die nur eingeklinkt und nicht verschlossen war, machte sie einen bühnenmäßigen tiefen Hofknicks:
»Seien Sie vorsichtig, Baron. Die Nacht ist hier sehr eisenhaltig.«
Heinz ging auf den Spaß ein, indem er eine galante Verbeugung andeutete:
»Comtesse, ruhen Sie gut! Und vergessen Sie es nicht: beim Mondschein am Elefanten-Pavillon!«
Mit gezierter Grazie warf sie ihm einen Handkuß zu und verschwand dann schnell in der Spalte der breiten Eichentür. Durch die Verdunkelung sah man das Treppenlicht aufblitzen, und das Herumdrehen eines Schlüssels klang auf die stille Straße. Dann entfernte sich ein leichter Schritt ins Innere des Hauses.
Heinz Wüllner stand noch da und zeichnete mit den Spitzen seiner Schuhe ein großes und etwas eckiges Herz in den lockeren Schnee, der hier in der stillen Straße nicht vor den Häusern beiseitegefegt war. Eine stille Feierlichkeit lag über diesen Häusern, die nur brutal unterbrochen wurde durch die verschneiten Trümmer eines zerschmetterten Wohnblocks, der von der nächsten Ecke ab begann. Und ganz paßten auch nicht die Ersatzfenster aus Glaspapier, mit denen man sogar in diesem Hause, wo Hilde Brandes wohnte, die Rahmen benagelt hatte.
Krieg, wohin man sah. Wunden, Schmerzen und Grauen selbst im Alltagsbild. Und wozu dieser Krieg? Wäre es wenigstens ein Streit um die Wahrung der Völkerrechte oder ein Kampf gegen die Horden irgendwelcher ferner fremder Völker, gegen einen Attila oder Dschingis-Khan! Aber nein! Es war ein Weltbrand, der aus krankhafter Machtgier und politischer Dummheit entfesselt worden war. Stück für Stück hatte man den Frieden vernichtet und gleichzeitig geschrien: Wir wollen keinen Krieg! Frei nach der Haltet-den-Dieb-Methode. Man verstärkte die Wehrmacht für die Garnisonen, man besetzte die Tschechoslowakei aus Befriedungspolitik, man rückte in Österreich ein aus Völkerfreundschaft, man holte das Memelgebiet, weil man recht hatte, und man zog in den polnischen Korridor, weil zur Wohnung des Großdeutschen Reiches eben ein Korridor gehörte. Das Eßzimmer sollte Holland werden, der Rauchsalon der Balkan, das Musikzimmer hieß Italien, die Bibliothek Griechenland, das Badezimmer mit der angrenzenden Liegewiese war das Mittelmeer samt Nordafrika, das Klosett war Rußland vorbehalten, als Bordell hatte man Frankreich erwählt, das Kinderzimmer sollte Belgien werden, und der Damensalon mit erlesenen Pelzen hieß Norwegen. Nur das Schlafzimmer fehlte noch – aber auch hier wußte die Muse der Geschichte eine Lösung: das Schlafzimmer war das Deutsche Reich!
Heinz Wüllner drehte sich auf dem Absatz um und schlenderte, die Hände tief in den Taschen seines Ulsters, wieder in Richtung Kurfürstendamm durch die Straßen.
Als er in den Kurfürstendamm einbog, tönte ihm von weitem ein lautes Singen entgegen. Aber er achtete nicht auf diesen Lärm und summte eine Melodie vor sich hin, die er vor einem Jahr in Italien von einem Melonenverkäufer gehört hatte.
Da zerriß ein gellendes Lachen die Stille und eine betrunkene Stimme grölte:
»Zwanzig Jahre hab' ich hier geschissen,
der Tommy hat mich rausgeschmissen,
würd' Göring jetzt nicht Meier heißen,
könnt' ich hier zwanzig Jahre weiter scheißen!«
Wüllner hielt mit dem Gehen inne. Wer sang hier in aller Öffentlichkeit solche Spottverse?
Und als wollten sie ihm Antwort geben, bogen sie um die nächste Ecke, den Kragen auf, die Mütze tief im Nacken, mit stieren Blicken, von einer Seite auf die andere torkelnd … vier deutsche Soldaten! Neben sich führten sie jeder eine Dirne, taumelten heran, lallten perverse Verse und Witze, und während der eine den nackten Hals seiner Dirne leckte, verrichtete ein anderer in Gegenwart der Weiber seine Notdurft.
Wüllner war es, als werde ihm der Boden unter den Füßen weggezogen. Was er hier sah, trieb ihm den Ekel in die Kehle. Das also hatte der verfluchte Krieg aus der deutschen Jugend gemacht!
Einer der Soldaten erspähte Wüllner und rief: »He, einsamer Wanderer, willst du ein Stück des Lebens abhaben? Wir wissen auch für dich hier in der Nähe ein Mädchen. Gleich um die Ecke steht sie! Wie heißt sie doch gleich?«
»Die billige Lili!« grölte eine
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