Heimaturlaub
Sturm mit der blanken Waffe in der Hand überlebt hatten und nun doch zurückscheuten vor dem Schrei eines Mädchens, das sie aus allen Illusionen reißen sollten.
Der General sah sich um.
»Keiner? Hm – ich ehre Ihre männliche Rücksicht, aber hier ist sie falsch am Platz. Ich sage es ihr selbst.«
Doch dem General wurde seine Mühe von einem Dritten abgenommen.
Am Abend dieses Tages brachte man einen Soldaten ins Divisionsgeschäftszimmer, einen neunzehnjährigen Abiturienten aus Weimar; brachte ihn auf einer Bahre, hoffnungslos, mit einem zerschmetterten Bein und einem Lungenschuß. Dieser Soldat hatte am Drahtverhau des deutschen Grabens gelegen, auf der Höhe der Urfttalsperre und einen Zettel in der Hand gehalten, auf dem stand: Meldung der 4. Kompanie – Oberleutnant Wüllner …
Als der General ins Zimmer trat, sah er die Nachrichtenhelferin Hilde Brandes an der Trage sitzen und die Hand des Sterbenden halten, dem in großen Perlen der Schweiß auf der Stirn stand; die Augen blickten ins Leere. Ein Ordonnanzoffizier übergab dem General ein Päckchen mit Meldungen, das man bei dem Soldaten – auf der Brust in einem Lederbeutel versteckt – gefunden hatte. Der Offizier flüsterte: »Sie weiß noch nichts …«
Der General nestelte das Bündel auf, entnahm ihm einen dicken Brief, adressiert an Hilde Brandes. Der Verwundete bewegte jetzt die Lippen und flüsterte:
»Mutter … Mutter …«
Wie ein Hauch wehte es durch die Stube …
Und still, ohne einen Ton des Schmerzes, brachen die Augen des neunzehnjährigen Abiturienten aus Weimar, des Melders der eingeschlossenen Kompanie, des Boten von hundert Mann, nehmen wir die Hälfte – fünfzig!
Der General nahm seine Hacken zusammen, der Oberkörper straffte sich, die Linke fuhr zur Hosennaht – der alte Mann stand stramm. In der Rechten hielt er einen kleinen schmutzigen Zettel, während er befahl:
»Meine Herren – nehmen Sie Haltung an!«
Eisern standen die Offiziere. Unbewegt, als der General fortfuhr:
»Hier ist die letzte Meldung der eingeschlossenen 4. Kompanie vor St.-Vith. Ich verlese sie:
›Volhagen. Der Druck ist ungeheuerlich. Die Munition ist verschossen. Verpflegung zu Ende. Die Kompanie besteht aus 43 Mann. Der Rest gefallen oder verwundet. Verbandszeug und Medikamente nicht vorhanden. Wir können uns nicht mehr halten. Trifft bis Sonntag kein Entsatz ein, stirbt die Kompanie getreu ihrem Fahneneid. Es lebe die Zukunft Deutschlands und der Friede … Heinz Wüllner …‹«
Eine kurze Pause trat ein. Dann war da wieder die Stimme des Generals:
»Heute haben wir Dienstag … meine Herren, ich bin stolz, unendlich stolz auf die 4. Kompanie!«
Da fuhren die Hände der Offiziere an die Mützen und grüßten stumm.
Unruhig flackerte die Lampe. Sonst war es still, geisterhaft still.
Tränenlos, ohne Schrei, ohne Zittern erhob sich Hilde, nahm vom General den dicken Brief entgegen und ging hinaus, vorbei an dem General, vorbei an den Offizieren. Starr wie eine aufgezogene Puppe wandte sie sich ihrem Zimmer zu in einem schiefen, halbzerschossenen Bauernhaus, setzte sich auf den Rand ihres Bettes, entzündete eine Kerze und öffnete vorsichtig den Brief.
Da war er auf einmal bei ihr. Er, Heinz Wüllner. Seine kritzelige Schrift lockte und sang, sprach und lachte, der Raum wurde weit, Wände versanken und Himmel und Ferne … er stand vor ihr, frech, mit ergrauten Haaren, die Hand in der Tasche und sah sie zärtlich an.
Sie entfaltete die halb mit Maschine, halb mit der Hand geschriebenen Blätter des Briefes, setzte sich nahe an die Kerze, ganz nahe. Und sie las.
Als der Morgen kam, der graue, nebelige Morgen eines Eifeler Februartages, saß sie noch immer auf dem Feldbett und sah in die Ferne – zwar mit verweinten, geschwollenen Augen, aber mit einem merkwürdig lächelnden Mund, mit einem stolzen Blick und einem gefestigten Glauben an das Leben.
Auf ihrem Schoß lagen die engbeschriebenen Blätter. Sie trugen eine merkwürdige Überschrift, nüchtern, nichtssagend, fremd: ›Lose Blätter‹.
Nichts weiter. Nur: ›Lose Blätter‹. Sie erzählten von einem Sterben, das umsonst und doch nicht nutzlos war:
Montag, den 29. Januar 1945
Ich sitze in einem notdürftigen Bunker in der Nähe von St.-Vith kurz hinter dem Graben und schreibe auf einer erbeuteten Remington-Schreibmaschine beim Schein eines Kerzenstumpfes diese Zeilen. Wenn ich sage erbeutet, so hieße das, den Mund etwas voll nehmen, denn richtiger gesagt fand ich
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