Heimkehr am Morgen (German Edition)
behaupten, gute, rechtschaffene Bürger zu sein, aber letztendlich doch nur Heuchler sind.« Ihre Stimme wurde zu einem Flüstern. »Es ist mir egal, ob seine Anschuldigungen wahr oder falsch sind. Was Sie privat machen, geht niemanden etwas an. Vor allem, wenn es sich um Herzensangelegenheiten dreht. Es ist kein Geheimnis, dass Cole und Sie einander seit der Kindheit zugetan sind. Das Leben ist zu kurz, um ständig nur den Dingen nachzutrauern, die hätten sein können. Glauben Sie mir, ich weiß, wovon ich rede. Lassen Sie nicht zu, dass Ihnen das Gleiche passiert.«
Jess bemerkte, dass in Iris’ braunen Augen unvergossene Tränen glänzten, und sie erinnerte sich, dass diese schon immer für Roland Bright geschwärmt hatte. Warum sich Roland nie ein Herz gefasst und dieses Juwel von einer Frau geheiratet hatte, war Jessica ein Rätsel. Spontan beugte sie sich vor und drückte der älteren Frau einen flüchtigen Kuss auf die Wange. »Danke, Iris. Ihre Unterstützung bedeutet mir viel.«
Jess schlüpfte in den Mantel und trat hinaus in den grauen Novembertag. Dabei hielt sie nach allen Seiten Ausschau, ob jemand in der Nähe war, der sie womöglich in Bedrängnis bringen könnte.
Wie war es nur so weit gekommen?, fragte sie sich, während sie die Hauptstraße entlanglief. Vor etwas mehr als einem Monat war sie zu einem kurzen Besuch bei ihrer Schwester zurück nachPowell Springs gekommen. Und in diesen Wochen war sie mit einer Epidemie, ungeheuerlichem Verrat und versuchtem Rufmord konfrontiert worden. Sie hatte, ganz zaghaft noch, die Möglichkeit erkundet, wieder jemanden zu lieben, hatte den Tod jedes einzelnen Patienten betrauert und ein weiteres Mal erfahren, welchen Schaden Unmenschlichkeit und Intoleranz anrichten konnten. Als sie an den Schaufenstern der geschlossenen Geschäfte vorbeiging, erhaschte sie ab und an ihr Spiegelbild. Dabei fiel ihr auf, dass von ihrem gesunden, erholten Aussehen, das sie in Saratoga zurückgewonnen hatte, nicht mehr viel übrig war. Ihre Kleidung war zerknittert, und sie wusch sie oft selbst in der Küchenspüle, da die Wäscherei inzwischen ebenfalls geschlossen war. Die Wegners hatten beide die Grippe bekommen, konnten jedoch zu Hause bleiben und sich gegenseitig pflegen.
Auf ihrem Weg zum Bahnhof schritt sie nicht mehr ganz so energisch aus wie zu Anfang ihres Aufenthalts, trotzdem beeilte sie sich in der Hoffnung, Dr. Pearson anzutreffen und angemessen begrüßen zu können. Zwei Jungen kamen ihr auf der Straße entgegen. Einer von ihnen fuhr auf einem Fahrrad, der andere zog einen Stecken hinter sich her und betrachtete das Muster, das er damit in den Schlamm malte. Ihrer Schätzung nach waren sie ungefähr zehn Jahre alt.
»He, das da ist doch die schlimme Ärztin, von der mein Pa erzählt hat«, sagte der eine zum anderen und deutete auf Jessica, wobei er sich nicht einmal bemühte, die Stimme zu senken.
Der Junge mit dem Stock blickte nun ebenfalls in ihre Richtung. »Ja, von der hab ich auch gehört. Gestern Morgen haben meine Eltern in der Küche über sie und Cole Braddock geredet. Meine Mutter hat gemeint, von so einer würde sie sich nicht mal einen Splitter aus dem Finger ziehen lassen, nach allem, was sie getan hat. Und Mr. Braddock wär keinen Deut besser. Aber dann haben sie mich bemerkt und waren still.«
Jessicas Gesicht brannte. Sie hielt den Blick auf die bewaldeten Hügel in der Ferne gerichtet, spürte jedoch, wie die Jungen sie anstarrten, als wäre sie eine Parkbank oder irgendein anderes lebloses Objekt. Sie sprachen über sie, als wäre sie taub.
»Warum? Was haben sie denn gemacht?«
»Keine Ahnung, aber es muss wohl was Schlimmes gewesen sein. Ich hab schon Ärger gekriegt, bloß weil ich gefragt hab. Mein Dad hat gesagt, sie wär eine
Hure
. Ich hab ihn gefragt, was das ist, aber er hat mir gleich den Hintern dafür versohlt, dass ich das Wort überhaupt in den Mund genommen hab, also werd ich ihn bestimmt nicht noch mal fragen.«
Als sie an ihr vorbeigingen, musste Jessica schlucken. Fieberhaft überlegte sie, was sie zu ihnen sagen sollte, aber da war es schon zu spät. Kinder konnten ziemlich grausam sein, das wusste sie, und ihre Umgangsformen – gute oder schlechte – lernten sie im Elternhaus.
Nach dieser einen gemeinsam verbrachten Nacht – die Erinnerung daran ließ Jessica immer noch vor Lust und Schamgefühl erröten – hatte Cole sie gebeten, in Powell Springs zu bleiben. Sie hatte sich vor der Antwort gedrückt,
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