Heimkehr am Morgen (German Edition)
auf zwei Arten raus – entweder aus eigener Kraft durch den Vordereingang oder mithilfe von Winks und mir durch die Hintertür zum Friedhof auf der Rückseite.«
Der alte Säufer namens Winks nickte bestätigend und zeigte erneut sein schiefes, zahnlückiges Grinsen.
Das wurde ja immer schlimmer! Pearson folgte seinen Führern die Treppe hinauf und durch das Eingangsportal. Sie brachten ihn zur Turnhalle, die er am Geruch augenblicklich als Grippestation erkannte.
Jessica verließ gerade Jeremys Abteil, als sie Frederick Pearson, immer noch in seinem eleganten Anzug, gaffend im Eingang stehen sah. Er nahm alles in sich auf, die aufgereihten Betten, die Basketballkörbe und die provisorischen Vorratsschränke mit den Schildchen, die sie als Leihgabe von Hustad’s Möbelgeschäft auswiesen.
»Doktor, wie ich sehe, haben Sie uns gefunden.«
Bei seinem entgeisterten Gesichtsausdruck musste sie sich das Lachen verkneifen. »Sie haben kein Krankenhaus? Sogar in Omaha gab es eins!«
»Powell Springs ist nicht Omaha. Wir sind eine Kleinstadt. Bis zum Ausbruch dieser Epidemie gab es nie so viele Patienten, dass man ein Krankenhaus gebraucht hätte. Aufgrund der Notlage hat der Stadtrat mir die Turnhalle zur Verfügung gestellt.«
»Und es gibt keinen Operationssaal, kein Labor, keine Krankenpfleger oder ausgebildete Krankenschwestern?«
Jess faltete die Hände wie ein Haushofmeister, der Gäste empfängt, froh, dass sie einen Moment die Oberhand hatte. »HatBürgermeister Cookson in seinem Briefwechsel mit Ihnen all das denn erwähnt?«
Ihm stand noch immer der Mund offen, während er den Kopf nach allen Seiten drehte, um seine neue Umgebung zu inspizieren. »Nicht ausdrücklich, aber er hat auch nicht das Bild vermittelt, dass es derart
rückständig
ist. Anscheinend wurden die Vorzüge von Powell Springs stark übertrieben dargestellt. Hier ist man keineswegs auf der Höhe des medizinischen Fortschritts, wie ich es von der Ostküste her gewohnt bin.«
»Nein, da haben Sie recht. Ich selbst habe einige Zeit in New York gearbeitet. Aber ich habe gelernt zurechtzukommen. Es ging nicht anders.«
»Wie versorgen Sie diese Leute mit Essen? Wie werden sie gebadet? Was ist mit der Wäsche?«
»Wir machen das, so gut wir eben können.« In aller Kürze berichtete sie ihm von Granny Maes Kochkünsten und dass sie in Powell Springs als Kräuterheilerin und gelegentlich auch als Tierärztin fungierte. Ferner erzählte sie ihm, dass sie den Inhalt der Nachttöpfe verbrannten und die Wäsche in Kesseln auskochten. »Granny Mae setzt auf traditionelle Heilmittel und hält wenig von der modernen Wissenschaft, aber sie ist ein bisschen offener geworden. Einige ihrer Ratschläge haben sich sogar als hilfreich erwiesen, auch wenn ich einschreiten musste, als sie Schwefel in die Schuhe der Patienten streuen wollte, um die Krankheit ›auszubrennen‹«.
Immer noch stand ihm das Entsetzen ins Gesicht geschrieben. Jessica wollte ihn zwar nicht ganz und gar verschrecken, aber es bereitete ihr ein diebisches Vergnügen, seinem aufgeblasenen Getue einen kleinen Dämpfer zu versetzen.
»Natürlich ist diese Grippeepidemie eine Ausnahmesituation. Sobald sie vorüber ist« – falls das je der Fall sein sollte, fügte sie im Stillen hinzu - »wird alles wieder seinen normalen Gang gehen.«
»Normal – aber was ist mit Operationen wie dem Entfernen der Gallenblase oder bei Darmverschluss? In lebensbedrohlichen Notfällen?«
Sie erlaubte sich ein Schmunzeln und genoss jede Sekunde. »Oh, das erledigen Sie in der Praxis. Dort gibt es zwar keinen Operationstisch, aber ich bin sicher, Sie könnten einen bestellen. Mein verstorbener Vater war früher der Arzt hier, und manchmal hat er einen Kaiserschnitt oder Ähnliches auf einem Küchentisch durchgeführt, wenn die Patienten nicht zu ihm kommen konnten.«
Frederick Pearsons Gesicht wurde puterrot und nahm einen solch gequälten Ausdruck an, als hätte er gerade eine Portion Alaun geschluckt oder stünde kurz vor einem Schlaganfall.
»Geht es Ihnen gut, Doktor?«
Er gab unverständliche Laute von sich.
»Ich schließe daraus, dass sie nicht daran gewöhnt sind, unter bescheideneren Umständen zu praktizieren.«
»Kaum.« Mehr als dieses Wort schien er nicht hervorbringen zu können.
Sie strahlte ihn an. »Oh, da fällt mir gerade ein – die Praxis verfügt über einen Telefonapparat. Unglücklicherweise haben die meisten Menschen hier keinen, und außerdem funktioniert er
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