Heimkehr am Morgen (German Edition)
vorbeikommen könnten. Ich möchte Ihnen zeigen, wie wir hier arbeiten.«
»Das werde ich tun, Madam, wenn Sie so freundlich wären, mir den Weg zu erklären.«
»Ich schicke Ihnen zwei Männer, die dort aushelfen. Sie werden das Gepäck abliefern und Ihnen dann den Weg zeigen.«
»Also habe ich nicht nur Sie, sondern auch noch weiteres Personal. Das sind ja tröstliche Neuigkeiten.« Er wirkte zufrieden.
Jessica musterte diesen arroganten Arzt mit festem Blick. Was dachte er eigentlich, wo er sich hier befand? »Das ist kein ›Personal‹. Es sind die Totengräber.«
Frederick Pearson saß auf dem quietschenden Eisenbett mit der verblichenen Patchworkdecke und sah sich in seinem Hotelzimmer um. Wenn man so ein Etablissement überhaupt als Hotel bezeichnen konnte. Mein Gott, wie war er, der älteste Sohn einer alteingesessenen Familie, nur hierher in die Verbannung geraten? Natürlich kannte er die Antwort, aber das machte die gegenwärtige Situation auch nicht erträglicher.
Ein scharfes Klopfen an der Tür riss ihn aus seiner Grübelei. Vielleicht hatte diese bessere Krankenschwester Jessica Layton inzwischen den Transport seines Gepäcks organisiert. Das hoffte er jedenfalls. Er stand auf, öffnete die Tür und fand sich zwei schmutzstarrenden Arbeitern gegenüber. Der eine war ein magerer Geselle mit spitzem Gesicht und rot geränderten Augen, der ihn an ein Opossum erinnerte. Der andere war älter und dünstete den Gestank nach schalem Bier und monatelang ungewaschenem Körper aus. Er starrte ihn mit offenem Mund an und bot ihm dabei freien Blick auf seine letzten zwei oder drei Zähne.
»Sind Sie der Doc, Fred Pearson?«, fragte der mit dem Opossumgesicht. Er betrachtete ihn von oben bis unten, als schätzte er ab, ob der Arzt irgendetwas von Wert bei sich trug, das sich zu stehlen lohnte.
»Ja, das ist er. Ihn hab ich am Bahnhof gesehen«, bestätigte der übelriechende Kretin.
»
Doktor
Pearson, wenn ich bitten darf. Und mein Vorname lautet Frederick, nicht Fred.« Warum musste er die Leute immer an die grundlegendsten Höflichkeitsregeln erinnern? »Und Sie sind?«
Opossumgesicht ignorierte die Frage. »Siehst du, ich hab dir doch gesagt, dass es das richtige Zimmer ist«, meinte er zu seinem Kompagnon.
»Ja, ja, aber ich hab eben gedacht, es wäre am anderen Ende des Flurs.«
Erst jetzt wandte sich der Schmächtige an Pearson. »Ihr Zeug ist unten. Sie reisen nicht gerade mit leichtem Gepäck, was, Doc? Was haben sie bloß in all den Kisten drin? Ihre gesamte weltliche Habe?«
Dem war tatsächlich so. Abendanzüge, die er in diesem Kaff niemals benötigen würde, Reitkleidung, Tennis- und Golfdress – alles würde im Koffer bleiben. Er biss die Zähne zusammen, erpicht darauf, die ganze Sache hinter sich zu bringen und diese – was hatte die Krankenschwester gesagt? Totengräber? – los zu sein. »Das geht Sie wohl kaum etwas an. Bringen Sie bitte einfach nur die Sachen herauf.«
Opossumgesicht, respektlos und verdammt großspurig, salutierte spöttisch. »Wie immer Ihr wünscht, Euer Gnaden. Die Ärztin hat gesagt, dass wir Sie dann mitnehmen sollen.« Er und sein Begleiter drehten sich um und gingen durch den Flur zurück zur Treppe.
Frederick spürte, wie sein Gesicht bis hinauf zu den Augenbrauen heiß wurde. Was für eine Unverschämtheit! Was bildete sich dieser Barbar überhaupt ein? Mürrisch ließ er sich wieder aufs Bett fallen. Kurz darauf kehrten die beiden zurück, wobei sie mit den teuren Lederkoffern ohne Rücksicht auf deren Inhalt gegen Stufen und Wände stießen.
»Würden Sie bitte vorsichtig damit sein?«, zischte er. »Manches darin ist zerbrechlich.«
Die Barbaren ignorierten ihn völlig und fluchten wie die Bierkutscher über das Gepäck.
Endlich war alles in seinem Zimmer verstaut. »Okay, Doc, Zeit zu gehen«, forderte ihn der mit dem Nagergesicht auf. Die Bettfedern ächzten erneut, als Pearson aufstand und sich den Männern anschloss. Sie führten ihn einige Straßen weiter zu einem Bau, derkeinerlei Ähnlichkeit mit einer medizinischen Einrichtung aufwies. Dann las er die Inschrift über dem Eingang.
Powell Springs Union High School
Pearson blieb am Fuß der Betonstufen stehen. »Was ist das für ein Gebäude?«, fragte er.
Opossumgesicht, dessen Name, wie er endlich erfahren hatte, Bert war, erwiderte: »Das ist die Krankenstation.«
»Wo ist das Krankenhaus?«
»Meinetwegen auch Krankenhaus – das hier ist es jedenfalls. Die Leute kommen nur
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